Enzyklopädische Relevanz oder „Ich habe einen biografischen Wikipedia-Artikel, also bin ich!“
(Sigrid Grün)
Kürzlich schickte mir eine Freundin einen Link zu, der zu einem Wikipedia-Artikel führte. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass es sich bei dem als „deutscher Unternehmer“ gelisteten Mann um einen ehemaligen Klassenkameraden von uns handelte. Er hat mittlerweile den Familienbetrieb seines Vaters übernommen und stellt irgendwelche Teile für Kühlschränke her. In seinem Unternehmen sind 12 Mitarbeiter beschäftigt. Ich finde es toll, dass Matthias 12 Arbeitsplätze geschaffen hat und dafür sorgt, dass es in Kühlschränken schön kalt bleibt. Aber es wundert mich doch ein bisschen, ihn in der größten Online-Enzyklopädie als Unternehmer gelistet zu finden. Sein biografischer Artikel ist übrigens ziemlich ausführlich. Darin steht unter anderem, welche Grundschule er besucht hat und in welchen Vereinen er Mitglied ist. Es wird auch erwähnt, dass er als Vereinsvorstand einmal ein Grußwort in einer Festschrift verfasst hat. Außerdem weiß ich jetzt, wann seine drei Kinder (zwei Töchter und ein Sohn) zur Welt kamen. Auf einem Foto lächelt er dem Leser des Lexikonbeitrags weißzahnig entgegen. Ich muss bei seinem Style unweigerlich an Christian Lindner denken, der bereits als Schüler mit Anzug und Aktenkoffer in der Schule aufgekreuzt ist.
Matthias, der meiner Freundin und mir einige äußerst amüsante Momente bereitet hat, ist kein Einzelfall. In Deutschland leben Millionen „Personen des öffentlichen Lebens“. Seitdem ich Autorin bin und als Schauspielerin arbeite, habe ich zwei Facebookseiten, über die Facebook-User mich kontaktieren können. Das ist in bestimmten Situationen sehr praktisch. Im vergangenen Jahr habe ich im Rahmen meiner Recherchen zum Thema „Missbrauch“ z.B. über eine Mutter geschrieben, deren Tochter während der Schulzeit von Mitschülern sexuell missbraucht wurde. Über meine Seite haben sich viele Menschen gemeldet, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Auf diese Weise konnte ich auf ein brisantes Problem aufmerksam machen.
Ein biografischer Wikipedia-Artikel verfolgt einen anderen Zweck. Er betont lediglich die Relevanz einer Person und ist vor allem Gratis-PR. In puncto Suchmaschinenranking kickt Wikipedia in der obersten Liga. Wenn ich eine Person bei Ecosia, Google & Co suche, stoße ich – sofern vorhanden – immer sofort auf Wikipedia-Artikel. Dieses selbstdarstellungstechnisch machtvolle Tool wird mittlerweile derart inflationär genutzt, dass man einen Großen Brockhaus mit irrelevanten Wikipediabiografien füllen könnte. Ich würde mir wünschen, dieses Meisterwerk der Bedeutungslosigkeit in meinem Regal stehen zu haben, um allabendlich vor dem Einschlafen darin zu lesen. Ich bin überzeugt davon, dass das eine hervorragende Medizin gegen die ganze Aufgeregtheit der täglich konsumierten Nachrichten sein könnte. Aufgeblasene Lebensläufe strahlen eine gewisse Beschaulichkeit aus, die vielleicht dazu in der Lage wäre, den von der überbordenden medialen Ereignisflut gestressten Geist in ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Dann könnte der Leser von lauter langweiligen Lebensläufen träumen, die auf Provinzbühnen und in muffigen Universitätsbüros dahinplätschern. Ich liebe diese Unaufgeregtheit und bin den Verfassern ihrer eigenen Wikipedia-Artikel zutiefst dankbar für ihre ausführlichen Texte, die eine wunderbare Meditationsgrundlage bieten können. Eine Sache empfinde ich dann aber doch als störend: die vielen Rechtschreibfehler. Insbesondere von enzyklopädisch erfassten Autoren sollte man doch wirklich eine gewisse Sattelfestigkeit in puncto Sprache und Stil erwarten können.