Rezension: „Bestseller“ von Jörg Magenau

Sage mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist oder Lesekost vom „Seller Teller“

Auf jedem Flohmarkt findet man in sämtlichen lieblos arrangierten Bücherkartons neben zahllosen Romanen von Konsalik und Johannes Mario Simmel immer auch „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C.W. Ceram. Die Bestseller von gestern sind die Flohmarktware von heute, denn meistens handelt es sich nicht um zeitlose Klassiker, sondern um eine an die Zeit gebundene Lektüre, die späteren Generationen als altbacken und irgendwie betulich erscheint. Wer einen nervenzerfetzenden Thriller oder Dystopien, die im Zeitalter der Digitalisierung spielen, haben kann, wird selten auf einen Agentenroman aus Omas Bücherschrank zurückgreifen. Als Kind macht man sich darüber keine Gedanken, da sind auch Agentenromane spannend. Aber als Erwachsener ist das Interesse an aktueller Literatur sehr viel größer, da es auch darum geht, mitreden zu können.
Bestseller sagen etwas über die Zeit ihrer Entstehung, beziehungsweise über die Zeit aus, in der sie sich extrem gut verkauft haben. Diese beiden Phasen stimmen oft nicht überein: Dale Carnegies Ratgeber „Sorge dich nicht, lebe!“ erschien z.B. 1948. In Deutschland wurde es allerdings erst viele Jahrzehnte später – da war der 1888 geborene christliche Motivationstrainer schon längst tot – ein ungeheurer Erfolgstitel, der viele Jahre in den Bestsellerlisten vertreten war. Das einfach gestrickte Motivationstraining verkauft sich bis heute gut, denn die Sorge ist offensichtlich der „Klassiker“ unter den Emotionen der Postmoderne.
Bestseller sagen etwas über die kulturellen Wertigkeiten aus, die zu einer gewissen Zeit in einer bestimmten Kultur eine Rolle spielen. Der ehemalige Kulturredakteur und freie Autor Jörg Magenau hat sich ausführlich mit dem Kulturphänomen „Bestseller“ beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben, das mich neugierig machte. Ich beschäftige mich als Kulturwissenschaftlerin mit populären Lesestoffen, habe z.B. im vergangenen Jahr versucht herauszufinden, warum das Genre Bad-Boy-Romance seit „Fifty Shades of Grey“ derart boomt. Magenau hat sein Buch nach Themenbereichen und nicht chronologisch gegliedert. Das finde ich absolut sinnvoll, da gewisse Themen immer wieder in den Fokus rücken. Die Beschäftigung mit der eigenen deutschen Vergangenheit spielt beispielsweise in verschiedenen Epochen eine Rolle, aber das Thema wird natürlich im Verlauf der Jahrzehnte unterschiedlich verhandelt.
Jörg Magenau nimmt vor allem Bestseller ins Visier, die von deutschsprachigen Autoren verfasst wurden. Erfolgsphänomene wie der US-Amerikaner Dale Carnegie kommen natürlich auch vor, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Es geht um Liebe, die Sorge um sich, um die Natur und um Gott, um Sinnlichkeit im „Parfum“, um Selbstfindung und um Hitler. Der ehemaligen DDR ist natürlich auch ein Kapitel gewidmet. Tellkamps „Turm“ hat sich immens gut verkauft, wurde aber kaum gelesen. Bestseller sind nun mal die Bücher, die sich am besten verkaufen und nicht die, die am häufigsten gelesen werden. Daran lässt sich ablesen, welche Wünsche und Sehnsüchte in einer Gesellschaft eine Rolle spielen. Tellkamps Roman über den Niedergang der DDR ist kein einfaches Buch. Ich kenne selbst eine Menge Leser, die es entnervt in die Ecke geworfen haben. Und trotzdem war es ein Bestseller.
Magenau schreibt fundiert und unterhaltsam. Ich habe viel Neues in seinem Sachbuch entdecken können, obwohl ich mich selbst relativ ausführlich mit dem Thema beschäftigt hatte. Amüsant sind natürlich die Geschichten, die anekdotischen Charakter haben, etwa über Kurt Wilhelm Marek, der unter seinem Pseudonym C.W. Ceram berühmt wurde. Sein „Roman der Archäologie“, das populärwissenschaftliche Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“, erschien 1949 bei Rowohlt. Deutschland lag immer noch in Trümmern und man möchte meinen, dass sich in so einer Zeit kein Mensch für Archäologie interessiert haben wird. Das Buch war aber ein ungeheurer Verkaufserfolg. Vielleicht lässt sich diese Tatsache besser verstehen, wenn man bedenkt, dass eine Nation, die gerade Aufräumarbeiten verrichtet, sich für den Niedergang in der Vergangenheit besonders interessieren könnte, weil man sich in der Trümmerlandschaft nun mal wiederfindet. Hatte C.W. Ceram einfach Glück, einen Lektor gefunden zu haben, der diesen Zusammenhang durchschaut hat? Er hatte sogar sehr viel Glück, denn sein Lektor war er selbst. Marek, der Lektor bei Rowohlt war und seinen selbst angefertigten Verlagsvertrag unterschrieb, verheimlichte lange Zeit sogar dem Verlagschef, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg.
Jörg Magenau stellt auch die verschiedenen Bestsellerlisten vor, die es in Deutschland gab. Zunächst war das Konzept „Bestsellerliste“ hierzulande ausgesprochen umstritten, zwischenzeitlich wurden die Listen sogar ausgesetzt. Sollte wirklich die Höhe der Verkaufszahlen darüber entscheiden, dass ein Buch noch häufiger gekauft wurde? Die „Zeit“ versuchte mit dem Seller-Teller eine Lösung, bei der es nicht um Platz 1, Platz 2 usw. gehen sollte, sondern um einen bunten Mix aus fünf Büchern, die sich gut verkauften und gerne empfohlen wurden. Trotzdem stand ein Titel natürlich ganz oben und einer ganz unten.
Heute sind Bestsellerlisten ausgesprochen beliebt. Die Rankingliste bei Amazon wird mehrfach am Tag aktualisiert. Wer ganz oben steht, wird sich noch besser verkaufen als ohnehin schon.
Der Autor nähert sich dem Phänomen Bestseller in vielfältiger Weise an. Er untersucht nicht nur, welche Bücher im Rückblick eine Aussage über die kulturellen Wertigkeiten einer bestimmten Zeit treffen, sondern stellt sich auch die Frage, ob es eine Art „Bestseller-Rezept“ gibt. Immerhin behaupten manche, die Formel bereits gefunden zu haben. Jörg Magenau kann diese Behauptung aber nicht bestätigen, denn die Formel funktioniert immer nur in der Rückschau. Einen wirklichen Bestseller kann man nicht planen. Selbst aufwändige Werbemaßnahmen garantieren nicht, dass ein Buch ein Kassenschlager werden wird. Der Zeitgeist und der Zufall fließen immer in die Formel mit ein. Das Phänomen Bestseller bleibt also ein Geheimnis.
Jörg Magenau hat mit „Bestseller“ ein äußerst interessantes Sachbuch geschrieben, das ich verschlungen habe. Populäre Lesestoffe sind ein sehr guter Indikator für gesellschaftliche Prozesse. Ich kann das Buch nur empfehlen!

Jörg Magenau: Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten
erschienen am 20. Februar 2018
www.hoffmann-und-campe.de

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