Rezension: „Die Gewitterschwimmerin“ von Franziska Hauser

„Ich fühle mich eingesperrt in diesem kleinen Land wie in einem Käfig“ – Franziska Hauser erzählt die Geschichte ihrer Familie über ein Jahrhundert hinweg

Ich gebe zu: Anfangs hatte ich etwas Probleme, in den Roman hineinzufinden. Etwas sträubte sich. Aber genau darum geht es unter anderem auch!
Franziska Hauser, 1975 in Ost-Berlin geboren, ist Fotografin und Schriftstellerin. In ihrem jüngsten Werk „Die Gewitterschwimmerin“ verarbeitet sie die Geschichte ihrer eigenen Familie über vier Generationen hinweg. Im Mittelpunkt steht die Mutter, eine Puppenspielerin, die 1951 zur Welt kam und im Roman Tamara heißt.
Der Auftakt des Romans ist skurril: Tamara erfährt, dass ihre Mutter Adele verstorben ist – in den Armen eines Polizisten. Tochter und Mutter hatten kein gutes Verhältnis zueinander. Die genauen Hintergründe werden im Lauf der Geschichte klar. Als Leser taucht man ein in eine Welt, die ein Kind nur beschädigen kann. Emotionaler und sexueller Missbrauch prägen den Alltag von Tamara und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Dascha. Daschas Geschichte hat mich besonders berührt. Schon als Mädchen ist sie zu keiner Lüge fähig. Sie ist brav, intelligent und angepasst, während ihre große Schwester frech und eigensinnig ist und sich wehren kann, was ihr aber aufgrund der Vorliebe ihres Vaters Alfred für „Weiber, die sich wehren können“ (374) zum Verhängnis wird. Dascha ist bereits mit 13 Alkoholikerin und stirbt schließlich am langjährigen Alkohol- und Tablettenkonsum. Vater Alfred ist ein gefeierter DDR-Schriftsteller, der gemeinsam mit seiner zweiten Frau Adele viel unterwegs ist, während Tamara und Dascha mit der Haushälterin Irmgard zuhause in Berlin bleiben. Ursprünglich war Alfred, der selbst jüdische Wurzeln hat, mit der Jüdin Esther verheiratet. Gemeinsam waren sie bei der Résistance aktiv, agierten mit falschen Identitäten im Untergrund und prangerten das Wirken des Vichy-Regimes an. Alfreds Vater, der Mathematikprofessor Friedrich Hirsch lebte während der Zeit des Nationalsozialismus in England. Alfreds Bruder Erwin, der an Knochentuberkulose leidet und beinahe Sigmund Freuds Enkelin Sophie heiratet, ist Naturwissenschaftler. Nach dem Ende des Krieges wird die Familie Hirsch in Sippenhaft genommen – weil Alfred sich öffentlich gegen das Vichy-Regime ausgesprochen hat, dürfen die Hirschs nicht in ihre Heimat im Schwarzwald zurückkehren, denn Baden-Württemberg ist französische Besatzungszone. Auf diese Weise landet die Familie in der Sowjetischen Besatzungszone, die 1949 zur DDR wurde. Während sich der leidenschaftliche Kommunist und erfolgreiche Schriftsteller Alfred sehr wohl in der DDR fühlt und von seiner Position profitiert, leidet seine eigensinnige und freiheitsliebende Tochter Tamara unter der Situation: „Ich fühle mich eingesperrt in diesem kleinen Land wie in einem Käfig. Eingesperrt mit meinen Kindern, verlassen von deren Vätern, alleine in dieser Wohnung, weisungsgebunden im Theaterkäfig, überwacht bis in mein Privatleben.“ (86) Die Töchter, das sind Henriette und Maja, 1975 und 1979 geboren. Tamara zieht die beiden weitgehend alleine groß, muss funktionieren: „Ich bin zwar eine defekte Maschine, aber ich arbeite noch. Niemand, außer mir, hört das Klappern und Rasseln in meinem Inneren.“ (87) Insbesondere ihr Beruf als Puppenspielerin nimmt sie zusehends mit, denn in den Stücken, in denen sie meistens Prinzessinnen verkörpert, geht es vor allem um sozialistische Propaganda, mit der sich die junge Frau nicht identifizieren kann: „Ich bin eine kaputte Maschine, weil ich die Arbeit richtig mache, die ich falsch finde.“ (87)
In der „Gewitterschwimmerin“ treffen Welten aufeinander: Der überzeugte Kommunist, Atheist und Widerstandskämpfer mit jüdischen Wurzeln, Alfred, heiratet eine Pfarrerstochter, deren Familie überzeugte Nationalsozialisten waren. Und das alles nur wegen einer Ohrfeige, die ihm die junge Krankenschwester einst verpasst hat, als er sie begrapscht hat. Adele lebt nach der Hochzeit nur noch für Alfred, die Bedürfnisse der Kinder und ihre eigenen stellt sie zurück. Und so fällt die eigensinnige Tamara dem Vater zum Opfer, der Widerstand und Wehrhaftigkeit bei Frauen ausgesprochen sexy findet. Während die Mutter ihre Töchter mehrere Tage anschweigt, weil sie sie nicht ertragen kann, missbraucht der Vater Tamara sexuell. Übergriffigkeiten und Missbrauch gehören zum Alltag der Kinder, die schon in jungen Jahren von ihrem Onkel Anton, der Arzt ist, begrapscht und „untersucht“ werden: „Onkel Anton hat das Recht, mich zu begrapschen. Er ist Arzt.“ (340) Besonders schmerzlich ist die Tatsache, dass die Mutter nichts unternimmt, obwohl Tamara sie auf den Missbrauch durch den Vater hinweist. Sie reagiert gleichgültig, denn sie hat selbst Missbrauch erlebt und gleichgültige Reaktionen darauf erfahren… Die Alltäglichkeit von Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen sind ein wichtiges Thema des Romans. Als Leserin ist mir bewusst geworden, dass Übergriffe auf Frauen vor nicht allzu langer Zeit auch in Deutschland noch relativ selbstverständlich waren.
Mit Daschas Tod ändert sich einiges. Der stets fröhlich gestimmte Alfred, der oft auf Händen die Treppe hochlief und seine seelisch völlig zerrüttete Tochter mit seinen Späßen heilen wollte, wird schweigsam. Und Tamara wird endgültig erwachsen: „Ihr hättet damit rechnen müssen, dass wir erwachsen werden und ‘n eigenen Kopf zum Denken haben!“ (419)
Der Zusammenbruch der DDR verunsichert Alfred schließlich endgültig: „Ich hab keine Ahnung, was Demokratie sein soll. Ich kenne nur den Kampf.“ (419)
Franziska Hauser erweckt vier Generationen ihrer Familie zum Leben und erzählt von einem langen und ereignisreichen 20. Jahrhundert. Die eigensinnige und widerspenstige Tamara ist kein einfacher Charakter, aber sie, die am liebsten bei Gewitter schwimmt, weil sie dann hofft, vom Blitz getroffen zu werden, legt den Finger in viele offene Wunden. Ein ebenso bedrückender wie beeindruckender Roman!

Franziska Hauser: Die Gewitterschwimmerin
erschienen am 23. Februar 2018
www.luebbe.de

Ein Gedanke zu „Rezension: „Die Gewitterschwimmerin“ von Franziska Hauser

  1. Friedemann Antworten

    Hochinteressante Einblicke in die sozialistische Alltagsrealität einer privilegierten Familie – mit allen Abgründen. Sprachlich spröde und erschütternd zugleich. Die vielschichtigen Missbrauchs- und Abhängigkeitsverhältnisse zeigen vor literarisch relativ unbekannten Milieu sehr deutlich den Wiederholungszwang, werden solche Traumata nicht benannt und zumindest ansatzweise bewältigt. Gerade im Kontext der spannenden 4 Generationenfamilie eröffnen sich neue Erkenntnisse.
    Ein Ausnahmeroman.

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