„Die Welt klein schlagen und neu zusammenbauen“ – Inger-Maria Mahlke erzählt 100 Jahre Inselgeschichte
Entscheidend für den Bildungserfolg und damit auch für das berufliche Weiterkommen ist nicht Leistung, sondern die soziale Herkunft – zu diesem Schluss gelangt der Hochschul-Bildungs-Report 2017. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe spielt auch in Inger-Maria Mahlkes jüngstem Roman, „Archipel“, eine wichtige Rolle. Und im Gegensatz zu den meisten Romanen, die eine Entwicklung aufzeigen, die mit der Zeit fortschreitet und damit die Frage nach dem „Wohin“ beantwortet, geht es in „Archipel“ um das „Woher“. Woher kommen die handelnden Personen? Wie sind sie zu denen geworden, die sie sind? Um das zurückzuverfolgen, erzählt Mahlke die Geschichte rückwärts – vom Jahr 2015 ausgehend, wandert sie in der Zeit zurück ins Jahr 1919. Und diese knapp 100 Jahre Inselgeschichte stehen exemplarisch für die europäische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts.
Fünf Personen, von denen vier einer Familie angehören, stehen im Jahr 2015 im Mittelpunkt: Die 1994 geborene Rosa Bernadotte Baute, ihr Vater Felipe Bernadotte González, ihre Mutter Ana Baute Marrero und deren 94-jähriger Vater Julio Baute Ramos. Die fünfte Person ist Eulalia Morales Ruiz, die Hausangestellte der Bernadottes.
Während die Bernadottes zur privilegierten Bevölkerungsgruppe der Aristokraten zählen und die Bautes Angehörige des Mittelstandes sind, sind die Morales‘ Teil der machtlosen Unterschicht, deren Vertreter entweder in prekären Arbeitsverhältnissen oder in der Kriminalität enden.
Inger-Maria Mahlke erzählt von den persönlichen Schicksalen – Depression, Degradierung und Drogensucht – vor dem historischen Hintergrund einer bewegten Zeit. Die Aristokratie erlebt einen Niedergang – im November 1975 verlor Spanien die Kolonie Spanisch-Sahara an Marokko – und bleibt doch stets stark. Aber Felipe, der Geschichte studiert und sich mit dem Machtmissbrauch seiner Vorfahren auseinandergesetzt hat, versucht sich abzugrenzen. Beim 23-F, dem Putsch des Militärs am 23. Februar 1981, äußert er seinem besorgten Vater gegenüber: „Glaub ja nicht, dass ich nicht, wenn es nötig wäre, wenn es irgendwelche Anweisungen gäbe – dass ich nicht kämpfen würde gegen euch.“ (226) Sein Großvater mütterlicherseits, der Zeitungsverleger Lorenzo González González, der Mitte der 30er Jahre die faschistischen Falangisten unterstützte, wollte noch die „Welt klein schlagen und neu zusammenbauen.“ (347) Die Aristokraten waren Anhänger des Faschismus und Nutznießer des Kolonialismus. Von diesem Erbe kann sich Felipe, der sich als Historiker kritisch mit seiner eigenen Herkunft auseinandersetzt, nicht befreien. Er muss selbst erkennen: „Gelöscht ist auf ewig gespeichert.“ (145)
Seine Frau Ana, die der Mittelschicht entstammt, die vorwiegend Anhänger des Sozialismus hervorgebracht hat, macht Karriere als Politikerin. Und ihre Tochter Rosa weiß mit 20 überhaupt nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Das Kunststudium auf dem Kontinent hat sie gerade hingeschmissen und verbringt ihre Tage im Wesentlichen mit dem Gucken von Serien und dem Posten von Fotos auf Instagram, während ihr 94-jähriger Großvater, der als Pförtner in einem Altenheim in Santa Cruz beschäftigt ist, aufpassen muss, dass kein dementer Bewohner ausbüxt. Diese Heiminsassen begegnen dem Leser immer wieder in der Rückwärtsreise in der Zeit…
Inger-Maria Mahlke, die selbst einen Teil ihrer Kindheit auf Teneriffa verbracht hat, lässt spanische Geschichte und Inselgeschichte lebendig werden. Dass sie sich für eine Insel als Handlungsort entschieden hat, macht das Ganze besonders spannend, da sich in einem Mikrokosmos alles konzentriert. Rechts und links prallen aufeinander, verschiedene Lebensentwürfe und soziale Schichten. Vor allem das Schicksal der Morales-Frauen hat mich berührt. Für sie gibt es kein Entkommen aus ihrem Herkunftsmilieu. Sie sind Abhängige – in vielerlei Hinsicht.
Die Autorin entwirft ein opulentes Panorama, das aufzeigt, wo Krisen und politische Entwicklungen ihren Ursprung haben. Zudem kann man eine Menge über Teneriffa lernen und zwar jenseits des Surrealisten- und Touristenwissens um schwarze Sandstrände vulkanischen Ursprungs. Es geht viel um Geschichte, etwa um „Fyffes“, ein faschistisches Konzentrationslager, das in den Lagerhallen des irischen Bananenexporteurs etabliert wurde. Jede Nacht kam es zu sogenannten „Sacas“, bei denen Menschen „herausgeholt“ (sacar) wurden. „Namenslisten wurden verlesen und die Häftlinge daraufhin in Las Canadas, im Barranco Santos und an anderen Orten ermordet. Die meisten wurden erschossen oder mit Schiffen aufs offene Meer hinausgefahren und über Bord geworfen. Die genaue Anzahl der Opfer steht bis heute nicht fest.“ (426, Glossar)
Es ist also keine leichte Lektüre, aber auf alle Fälle eine, die sich lohnt!
Inger-Maria Mahlke: Archipel
erschienen am 21. August 2018
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