„Aus Schlumpfhausen, bitte sehr!“: Warum unsere Herkunft nicht zum Tabu werden darf
(Sigrid Grün)
Ich bin nicht in Deutschland geboren und als Kind habe ich mich einige Jahre dafür geschämt. In der 3. Klasse setzte mein Grundschullehrer mich „zu den anderen Ausländern“ und wir mussten alle standardmäßig den Deutschkurs am Freitagnachmittag besuchen. Hätte meine Mutter dem Lehrer nicht die Hölle heiß gemacht, weil sie einen Förderkurs für eine Schülerin, die in Deutsch zwischen 1 und 2 stand, als Schikane empfand, wäre auch mein Wochenende kürzer gewesen. Und das nur, weil auf meinem Schülerbogen beim Geburtsort nicht nur das Dorf stand, in dem ich auf die Welt gekommen bin, sondern auch „Rumänien“. Das war damals noch der finstere Ostblock, den man aus Dokus kannte, in denen es um Armut und Klebstoff schnüffelnde Kinder ging. An mir klebten diese Vorstellungen bis zu meiner Jugendzeit. Meine Scham, nicht aus Deutschland zu kommen, ging sogar so weit, dass ich es einer Freundin verheimlichte. Als wir einmal beide nicht am Schwimmunterricht teilnehmen konnten und auf der Metallgitterbank in der Eingangshalle des städtischen Hallenbades saßen, erzählte sie mir von der Scheidung ihrer Eltern. Ihr Vater wäre mit einer „dreckigen Rumänierin“ durchgebrannt. Im Alter von 11 Jahren war ich noch nicht so weit, zu sagen, dass es nicht Rumänierin, sondern Rumänin heißt, und diese Leute überhaupt nicht dreckig wären. Vor allem wollte ich damals aber auf keinen Fall, dass sie jemals erfahren würde, dass auch ich aus Rumänien kam. Ich habe schon seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr, aber der Moment im Schwimmbad reihte sich nahtlos in eine Kette von beschämenden Situationen ein, in denen es um meine Herkunft ging. In der 7. Klasse log ich im Englischunterricht. Wir sollten gegenseitig Steckbriefe über unsere jeweiligen Banknachbar*Innen schreiben. Zunächst sammelten wir Stichpunkte. Ich meldete mich und kratzte meine gesamten Englischkenntnisse zusammen: „Date of birth, favourite colour, favourite animal, favourite food…“. Atemlos ratterte ich eine Menge Kategorisierungsmöglichkeiten runter, die unsere Lehrerin an der Tafel notierte. Ich hoffte inständig, dass ich alle möglichen Facetten eines Menschen abgedeckt hätte. Keiner meldete sich und ich war erleichtert. Doch dann ging der Finger einer Mitschülerin nach oben und sie sagte die schlimmen Worte: „City of birth!“ Die Lehrerin schrieb „Place of birth“ an die Tafel und mich befiel Panik. Der Gong ertönte und ich rang einen ganzen Tag und eine schlaflose Nacht mit mir. Sollte ich lügen und womöglich riskieren, dass die Lehrerin sich die Steckbriefe ansah und mich bloßstellte? „Moooment, du bist doch gar nicht in Regensburg geboren, so wie fast alle hier!“ Ich überlegte, ob ich zunächst lügen und sobald die Zettel hingen, heimlich meinen Geburtsort korrigieren oder gleich den ganzen Steckbrief verschwinden lassen sollte. Ich entschied mich dazu, zu lügen und mich zur gebürtigen Regensburgerin zu machen. Während der Wochen, in denen die Steckbriefe hingen, war ich unkonzentriert – stets fürchtete ich, aufzufliegen. Scham ist eines der schlimmsten Gefühle, die es gibt. Es ist das Gefühl, nicht da sein zu wollen. 20 Jahre später kam ich wieder in eine unangenehme Situation. Ich begleitete meine schwerhörige und verängstigte Oma zur Aufnahmeuntersuchung ins Krankenhaus. Sie sollte eine künstliche Herzklappe bekommen. Die junge Ärztin forderte meine Großmutter in ruppigem Ton dazu auf, sich komplett zu entkleiden. Ich versuchte meiner aufgeregten Oma zu vermitteln, was sie tun sollte und half ihr aus der Strickjacke, der Bluse und der Hose. Die Ärztin wurde ungeduldig. Sie blickte auf den Patientenbogen und schien zu begreifen. Dann fragte sie mich betont langsam und völlig überartikuliert: „Ver-ste-hen Sie mich ei-gent-lich? Spre-chen Sie deutsch?“ Ich sah sie an und spürte die Wut in mir aufsteigen. Scham war da keine. „Ja, ich spreche ausgezeichnet deutsch! Ich habe sogar einen Magister in Germanistik!“ Irritiert wandte sich die Ärztin ab. Eine Entschuldigung kam nicht, aber das war mir egal. Nicht meine Herkunft war das Problem, sondern die Vorstellung einer Ärztin, dass ein Mensch dessen Oma (meinen Geburtsort kannte sie ja nicht einmal) nicht in Deutschland geboren ist, vermutlich nicht gut deutsch spricht.
Die Frage nach der Herkunft ist nicht das Problem
Keine zehn Jahre später geht es wieder um die Herkunft einer Großmutter. Der Auftritt eines fünfjährigen Mädchens namens Melissa in einer Castingshow sorgt für Aufregung. Der „Pop-Titan“ Dieter Bohlen, der für seine markigen Sprüche, die gerne unter die Gürtellinie gehen, bekannt ist, hat Melissa nach ihrer Herkunft gefragt. Nicht einmal, sondern dreimal. Mehrere Monate nach dem Auftritt, twittert die SPD-Politikerin Sawsan Chebli „Bohlen mag es gut gemeint haben. Es ist aber ein riesiges Problem. Wie soll eine deutsche Identität entstehen, wenn einem das Deutschsein abgesprochen wird, weil man anders aussieht? Es ist nicht lustig. Es ist traurig und es hat fatale Auswirkungen.“
Viele andere ziehen nach. Der „ethnische Ordnungsfimmel“ zeuge von einem „problematischen Herkunftskonzept“, schreibt Ferda Ataman in einer Spiegel-Kolumne. Und in den Kommentarspalten in den sozialen Netzwerken wird wieder einmal die Spaltung der Gesellschaft offenbar. Während die einen finden, dass Bohlen ohnehin nur ein „alter, Camp David-tragender weißer Mann“ sei, tun andere das Ganze als Hysterie ab. Was bleibt, ist ein Gefühl der Verunsicherung. Soll, ja darf man Mitmenschen überhaupt noch nach ihrer Herkunft befragen? Ich sage: Ja, selbstverständlich! Die Frage selbst bedeutet noch lange nicht, dass jemand exkludiert wird. Ich verstehe es, dass Menschen, die ständig gefragt werden wo sie herkommen, irgendwann genervt sind. Aber wie so oft, hängt vieles vom Kontext ab.
Und in diesem Zusammenhang muss ich Dieter Bohlen jetzt mal in Schutz nehmen – dass ich das mal machen würde, hätte ich auch nie gedacht! Melissa trat in der Talentshow in einem Pahom auf, einem traditionellen Kleidungsstück, das in Thailand von Frauen um den Oberkörper geschlungen wird und sie führte einen traditionellen Tanz auf. Da fragt ein Moderator vorher freilich nach, woher man kommt, sonst würde das Publikum sich fragen: „Was ist das wohl für ein Tanz? Nach Schuhplattln sieht’s ja nicht direkt aus.“ Gerade wenn jemand sich mit einem Land identifiziert, etwa typische Kleidung trägt und einen Tanz vorführt, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Person eine hybride Identität verstecken will. Und es ist doch vollkommen okay, zu sagen: „Ich bin Deutsche, habe aber auch thailändische Wurzeln!“
Hätte das Mädchen einen englischen Popsong zum Besten gegeben, wäre das Nachhaken natürlich too much gewesen, weil es mit dem Auftritt überhaupt nichts zu tun hätte, wo jemand herkommt.
Melissa hat das Konzept der Herkunft im Sinne von „ethnische Zugehörigkeit“ offensichtlich auch gar nicht gekannt. Sie antwortete beide Male: „In Herne!“ Im Sinne von: „Ich lebe in Herne, meine Eltern leben auch in Herne.“ Das ist mit fünf ja auch völlig normal, erstmal daran zu denken, wo man wohnt und nicht die ganze Familiengeschichte im Kopf zu haben.
Das Problem ist nicht die Frage, sondern die Bewertung. Ein herablassendes „Wo kommst du denn her?“ impliziert eine Abwertung und hat damit eine exkludierende Wirkung. Die Frage nach der Herkunft sollte aber auf gar keinen Fall tabuisiert werden, weil damit die Herkunft selbst zu einer schambehafteten Angelegenheit wird. Und das wäre fatal.
Meine Freundin Elli kommt aus Kroatien und hat eine türkische Großmutter. Ihr Mann ist Grieche. Als ihre Tochter im Alter von drei Jahren in den Kindergarten kam, versammelte sie die Erzieherinnen um sich und sagte: „Also, passt mal auf, mein Baba ist griechisch, meine Mama ist lugoslawisch und ich, ich bin deutsch!“ Ich wünschte, ich wäre als Jugendliche auch schon soweit gewesen…
Wenn wir die Frage nach der Herkunft tabuisieren, ist das Rassismus. Es geht nicht darum, dass wir alle gleich sind, denn das sind wir nicht – es geht darum, dass wir alle die gleichen Rechte haben. Wir sollten in den Unterschieden Gemeinsamkeiten suchen, so dass jeder Mensch, ohne sich dafür zu schämen, anders sein kann und sein Anderssein nicht verdrängen muss.