Rezension: Christian Berkel: Der Apfelbaum

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – Christian Berkel erzählt die Geschichte seiner Familie

Christian Berkels Familiengeschichte hat mich ausgesprochen positiv überrascht. Der 1957 in West-Berlin geborene Schauspieler, der vor allem durch diverse Kinofilme („Der Untergang“, „Das Experiment“) auch bei einem internationalen Publikum Bekanntheit erlangte, ist ein begnadeter Erzähler. Ich gebe zu, dass ich das nicht erwartet hätte. Die Geschichte seiner Familie ist aber auch zutiefst beeindruckend: Der Vater, Otto Berkel, entstammte dem Proletariat, überlebte nur knapp seine Kindheit und musste sich stets durchschlagen. Die Mutter, Sala Nohl, ist in einem bürgerlichen Haushalt aufgewachsen. Der Vater, ein bisexueller Intellektueller, der u.a. mit Erich Mühsam liiert war und seine Tochter Sala alleine aufzog, weil deren Mutter Iza sich mit einem Liebhaber nach Spanien abgesetzt hatte, war Anarchist und lebte einige Zeit in der Künstlerkolonie Monte Veritá in Ascona.
Christian Berkel gelingt es, sich auf einfühlsame Weise vor allem an das Leben seiner Mutter Sala (Ursula) Nohl anzunähern. Während seiner Besuche bei ihr stellt er fest, dass immer mehr Lücken in ihrem Gedächtnis auftauchen. Sie leidet unter Demenz und meint, mit Carl Benz oder Putin verlobt zu sein. In Gesprächen mit der Mutter und durch Recherchen in diversen Archiven wird deutlich, dass die Eltern des Autors das 20. Jahrhundert in all seiner Härte erlebt haben. Dort, wo allzu große Lücken auftauchen, füllt Christian Berkel sie erzählend.
Sein Vater Otto lernt seinen Vater nie kennen, da er im 1. Weltkrieg gefallen ist. Die Pflegeeltern, bei denen er eine Zeit lang lebt, bringen ihn fast um und der Stiefvater behandelt nur seine eigene Tochter gut. Otto wird zum Kämpfer, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt. Seine zukünftige (zweite) Ehefrau Sala lernt er auf höchst ungewöhnliche Weise bereits als Jugendlicher kennen. Er ist 17, sie gerade mal 13. Er schafft es, Medizin zu studieren und versorgt im 2. Weltkrieg als Arzt die Verwundeten. Doch 1945 ist für ihn der Krieg noch lange nicht vorbei. Bis 1950 ist er in russischer Kriegsgefangenschaft.
Während Otto seine besten Jahre an den Krieg verliert, befindet sich Sala in ständiger Lebensgefahr, denn ihre Mutter Iza ist Jüdin und sie somit Halbjüdin. Sie reist zunächst zur Mutter nach Spanien, später zu ihrer Tante nach Frankreich, wo sie festgenommen wird und im größten französischen Internierungslager Gurs landet. Völlig entkräftet wird sie schließlich nach Deutschland geschickt, wo ihr als Halbjüdin wieder ein Lageraufenthalt droht. Doch durch die Hilfe Fremder gelingt es ihr, eine neue Identität anzunehmen. Sie bekommt ein Kind, mit dem sie nach dem Krieg nach Argentinien auswandert, denn in Europa herrschen Armut und Hunger.
Doch Otto geht ihr nie aus dem Kopf…

Was für ein beeindruckendes Buch! Es geht um das Überleben in der finstersten Zeit des 20. Jahrhunderts und um den Umgang mit dem Grauen: „So ist die Hölle, dachte ich, weiß und von unruhiger Stille. In tiefer Angst fühlte ich ein dringendes Bedürfnis zu leben.“ (118)
Trotz der ständigen Lebensgefahr und der stets präsenten Ängste, erinnert sich Sala immer wieder an ein Zitat aus Hölderlins Hymne „Patmos“: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (u.a. 362)
Und nach der Lektüre dieses Buches kann ich mich nur Daniel Kehlmanns Urteil anschließen: „Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben. Dieser Mann ist kein schreibender Schauspieler. Er ist ein Schriftsteller durch und durch. Und was für einer.“

Christian Berkel: Der Apfelbaum
erschienen am 12. Oktober 2018
www.ullstein-buchverlage.de

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