„So viel Anfang war nie. So viel Ende auch nicht“ – Harald Jähner erzählt eine Mentalitätsgeschichte Nachkriegsdeutschlands
Der Zweite Weltkrieg ist für die Deutschen ein kollektives Trauma, das bis in die heutige Zeit nachwirkt. Sabine Bodes Bücher zu „Kriegskindern“ und „Kriegsenkeln“ waren Bestseller, denn das, was während der Zeit des Nationalsozialismus passierte, ist bis heute unfassbar. Bald wird die Generation derer, die den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit als Erwachsene miterlebt haben, verschwunden sein. Dem Jahrzehnt nach Kriegsende hat Harald Jähner nun ein Buch gewidmet, das im März mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik ausgezeichnet wurde. Völlig zu Recht, denn dem Autor gelingt es eindrucksvoll, diese für Deutschland prägenden Jahre einzufangen.
Die typischen Bilder, die uns zur Nachkriegszeit in den Sinn kommen, sind Trümmerfrauen, die das Land wieder aufbauen, körperlich und seelisch zerrüttete Kriegsheimkehrer und Kohle klauende Kinder. Doch inwiefern werden diese Vorstellungen den Jahren nach Kriegsende überhaupt gerecht? Der Autor zeigt auf, dass einige Motive zum Mythos verklärt wurden. Das Phänomen der Trümmerfrau etwa, die mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Schutt ein neues Land formt, gehört zum Beispiel weitgehend ins Reich der Mythen. Goebbels hatte bereits nach dem verheerenden Bombenangriff auf Hamburg Trümmerfrauen filmisch in Szene setzen lassen. Doch die lachenden, Eimerketten bildenden Frauen waren Schauspielerinnen. Unkoordinierte Aufräumarbeiten, die echte Trümmerfrauen nach dem Krieg durchführten, waren oftmals sogar kontraproduktiv, da Schutt unter anderem in U-Bahn-Schächten entsorgt wurde, aus denen er unter noch größerem Aufwand wieder entfernt werden musste. Natürlich war die Enttrümmerung ein unglaublicher Kraftakt, den die Bevölkerung gemeinsam mit den Alliierten bewältigen musste, aber sie vollzog sich nicht so, wie einige romantisierte Darstellungen dies suggerieren. Der Aufräumprozess dauerte viele Jahre, mitunter Jahrzehnte, weshalb sich die Menschen zunächst in den Trümmern einrichten mussten. Es entwickelte sich sogar ein gewisser Trümmertourismus, in dessen Mittelpunkt eine Trümmerästhetik stand, die Fotografen in Köln, München und anderen Großstädten in ihren Bildern einfingen.
Einen umfangreichen Abschnitt widmet Jähner dem „große[n] Wandern“, den unglaublichen Menschenströmen, die durch das Land zogen, auf der Suche nach ihrer alten oder einer neuen Heimat. Befreite Zwangsarbeiter und umherirrende Häftlinge waren sogenannte Displaced Persons (DPs), die sich kriegsbedingt in Deutschland aufhielten und ebenso versorgt werden mussten, wie die Vertriebenen, die alles verloren hatten und von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurden. Im Extremfall gipfelte der Hass auf Flüchtlinge sogar im Mord.
Wie konnten die Menschen in Deutschland unter diesen Umständen überhaupt zu so etwas wie Normalität zurückfinden? Feiern waren ein wichtiger Aspekt – nach dem Krieg brach sich eine regelrechte Tanzwut Bahn. Man feierte, dass man überlebt hatte und versuchte sich vom Elend im Alltag abzulenken. Bald wurde auch wieder Fasching gefeiert – in den unterschiedlichen Besatzungszonen herrschten zu diesem Thema übrigens divergierende Vorstellungen: Während die Briten Faschingsfeiern noch untersagten, bestanden die Franzosen sogar darauf, dass in Mainz wieder gefeiert wurde, da dadurch eine Festigung der regionalen Identität erreicht werden sollte.
Welche Rolle spielte die Liebe in der für Frauen oftmals gefährlichen Nachkriegszeit? Auch dieser Frage widmet sich Harald Jähner. Vor allem im Osten kam es zu sexuellen Übergriffen. Vergewaltigungen, etwa durch rachsüchtige russische Soldaten, gehörten erschreckenderweise zum Alltag. Traumatisierte Kriegsheimkehrer waren liebesunfähig geworden, Frauen hatten ein neues Selbstbewusstsein entwickelt – die Zahl der Scheidungen explodierte. Doch der eklatante Frauenüberschuss führte bald dazu, dass Frauen ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein auch wieder einbüßten – bisweilen kamen auf einen Mann bis zu sechs Frauen. Selbst Versehrte waren begehrt. In Frauenzeitschriften wurde erklärt, wie man sich mit dem Beinstumpf eines Mannes „anfreunden“ kann. Im Westen kam es trotz eines klar definierten Verbotes immer öfter zu Beziehungen mit alliierten Soldaten.
Um Hunger, Not und Bewältigungsstrategien geht es im Abschnitt „Rauben, Rationieren, Schwarzhandeln – Lektionen für die Marktwirtschaft“. Die Not vor der Währungsreform ist für Menschen in der heutigen Zeit kaum vorstellbar. Rationierte Lebensmittel und nicht ausreichend vorhandenes Brennmaterial führten im Hungerwinter 1946/47 schließlich zur Katastrophe. Während die Versorgung der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten noch weitgehend gesichert war, starben Überlebende des Krieges nun an Hunger. Der Kölner Kardinal Joseph Frings erklärte 1946 in seiner Silvesterpredigt: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“ Damit legitimierte er Plünderungen. Der Volksmund sprach fortan vom „Fringsen“.
Im Juni 1948 kam es in den westlichen Besatzungszonen endlich zu einer Währungsreform, bei der zwar alle vormals Wohlhabenden ihre Ersparnisse einbüßten – die Reichsmark war von einem Tag auf den anderen so gut wie nichts mehr wert -, doch erst dank der neu eingeführten D-Mark war der Wohlstand möglich, der die Wirtschaftswunderzeit kennzeichnen sollte. In den Läden gab es wieder ein reiches Warenangebot, die Zeit der Rationierung war vorbei. Anhand des Beispiels Wolfsburg erzählt der Autor vom deutschen Wirtschaftswunder, das breiten Teilen der Bevölkerung zum Beispiel erlaubte, ein Auto zu fahren: den Volkswagen, der zum Symbol des Wohlstands wurde.
Auch die Themen Presse, Kunst und Design werden ausführlich verhandelt. Sehr amüsant fand ich die Geschichte, in der die Entwicklung des Couchtisches erzählt wurde. Amerikanische Soldaten hatten in beschlagnahmten Wohnungen die Tischbeine abgesägt, um ihre Füße besser hochlegen zu können. Nach der Rückkehr in ihre Wohnungen waren die Deutschen zunächst entsetzt, erkannten jedoch bald die Vorteile des neuen Möbelstücks.
Um die Gefühlswelt der Nachkriegsdeutschen geht es im letzten Kapitel: „Verdrängung“. Auch die Selbstviktimisierung ist Thema. Doch wie konnte aus dem Trümmerhaufen und dem inneren und äußeren Chaos, das der Krieg angerichtet hatte, eine stabile Demokratie entstehen? Harald Jähner schreibt dazu in seinem Nachwort: „Wie es gelingen konnte, dass sich die Mehrheit der Deutschen bei aller hochmütigen Zurückweisung individueller Schuld zugleich einer Mentalität entledigte, die das NS-Regime möglich gemacht hatte, versuchte dieses Buch zu ergründen. Der Schock der radikalen Ernüchterung spielte dabei eine zentrale Rolle, so groß wie der vorangegangene Größenwahn, aber auch die Anziehungskraft gelassenerer Lebensweisen, wie sie die Alliierten verkörperten, die bittere Sozialisation durch den Schwarzmarkt, die Mühen der Vertriebenenintegration, die spektakulären Streitereien um die abstrakte Kunst, das Vergnügen am neuen Design. Sie beförderten einen Mentalitätswechsel, auf dessen Grundlage die politischen Diskurse um die Demokratie allmählich Früchte tragen konnten.“ (405f.)
Es gab keine einzige Seite in diesem Buch, die ich langweilig gefunden habe – Harald Jähner ist ein großartiger Erzähler, der Geschichte lebendig werden lässt. Ich wünsche dem Buch zahlreiche Leserinnen und Leser und hoffe, dass auch jungen Menschen das Thema Nachkriegszeit durch dieses rundum empfehlenswerte Buch nahegebracht werden kann.
Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955
erschienen am 19. Februar 2019
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