Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik

Eine emotionshistorische Annäherung – Frank Biess erzählt eine Geschichte der bundesrepublikanischen Ängste

Der Klimawandel sorgt derzeit nicht nur in Deutschland für apokalyptische Ängste. Überhaupt ist Angst eine Emotion, die gegenwärtig eine große Rolle spielt. Menschen haben Angst vor Terror, vor Altersarmut und generell vor der Zukunft. Es entsteht der Eindruck, dass wir uns noch nie so unsicher gefühlt haben. Doch, stimmt das überhaupt? Frank Biess ist Historiker und Professor für Europäische Geschichte an der University of California in San Diego. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Bundesrepublik nach 1945. Mit „Republik der Angst“ unternimmt er den Versuch, sich auf emotionshistorischem Wege der westdeutschen Geschichte anzunähern. Entscheidend ist, dass klar zwischen Ost und West getrennt wird, denn die Ängste in den beiden Staaten waren unterschiedliche. Hier geht es explizit um Westdeutschland und erst im Epilog um die Gegenwart und das wiedervereinigte Deutschland ab den 1990er Jahren.
Bei der Lektüre fällt auf, dass viele aktuelle Ängste so neu nicht sind. Während heute Überlegungen angestellt werden, der zukünftigen Arbeitslosigkeit aufgrund der Digitalisierung, durch ein bedingungsloses Einkommen zu begegnen, sorgte die Automatisierung bereits zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ (späte 50er und 60er Jahre) für eine massive Verunsicherung. Ängste vor einem „Ameisenstaat der Zukunft, Vermassung und drahtloser[r] Lenkung der Gehirne“ und vor einem „Verlust der Person und der Kultur“ (170) trieben die Menschen bereits vor 60 Jahren um. Genau wie die Digitalisierung sorgte auch die Automatisierung für gemischte Gefühle: „Während die einen Automation als Vorbote eines ‚Schlaraffenlandes‘, in dem die Roboter arbeiten und die Menschen feiern‘, bejubelten, fürchteten die anderen ‚Massenarbeitslosigkeit und Elend‘ infolge der Automation.“ (173)
Der Autor zeigt anhand von acht (beziehungsweise neun) Angstzyklen auf, was die Deutschen, die letztendlich sogar für ihre „German Angst“ bekannt sind, quälte. Immer wieder kam es zu Verschiebungen, so dass innere und äußere Ängste und Gefühlsordnungen (repressiv vs. expressiv) sich abwechselten. Ein entscheidender Punkt ist Frank Biess‘ Feststellung, dass Angst nicht zwangsläufig ausschließlich negativ sein muss, denn sie hat durchaus ihre Berechtigung und letztendlich auch für große Fortschritte gesorgt. Die Angst vor dem Verlust der Demokratie war stets ein Motor, der die Demokratie vorangebracht hat: „Wie dieses Buch zeigen will, lässt sich die Geschichte der ‚alten‘ Bundesrepublik auch als eine Geschichte von Angstzyklen verstehen. Für die Deutschen war die Geschichte nach 1945 nicht nur eine stetige Aufwärtsentwicklung und progressive Demokratisierung. Diese Prozesse, die es durchaus gab, waren vielmehr immer zugleich geprägt von angstbesetzten Zukunftsvisionen, die sich teilweise zu Panik, wahren Horrorszenarien und Weltuntergangsvorstellungen ausweiteten. Angst war ein wesentlicher, vielleicht sogar entscheidender Aspekt der bundesrepublikanischen Kultur nach 1945.“ (411)
Welche Ängste prägten Deutschland zwischen dem Ende des 2. Weltkrieges und der Wiedervereinigung?
Zunächst war es die Vergeltungsangst, die die Deutschen quälte. Viele befürchteten eine jüdische Rache oder Gewalt durch DPs (Displaced Persons) oder die Besatzungssoldaten. Obwohl diese Angst durch die erlebten Verlusterfahrungen eigentlich völlig übersteigert war, gab es doch ab und an Situationen, in denen sich tatsächlich der Vergeltungsdrang Bahn brach: „Nach einem Bericht der örtlichen Presse in Nürnberg drang am 18. April 1945, dem Tag der amerikanischen Besetzung, eine ‚hemmungslose Horde frei gewordener Ausländer‘ in den Nürnberger Zoo ein und tötete ‚herzlos und ohne Gefühl … wehrlose und verängstigte Tiere.‘ Sie erschlugen Hirsche, erwürgten einen Bären, töteten sogar einen Löwen und schlugen einem Vogel Strauß den Kopf ab. Einige der Täter, vor allem ‚Russen und Italiener‘, scheinen während des Krieges im Nürnberger Zoo als Tierpfleger gearbeitet zu haben. Sie waren daher möglicherweise durch den Drang nach Rache wie auch schlichtweg durch Hunger motiviert, weniger durch ‚Blutrausch‘, wie die Presse mutmaßte.“ (59) Hier wird auch deutlich, welche Rolle die mediale Stimulierung im Zusammenhang mit der Entstehung und Verbreitung von Ängsten gespielt hat.
Durch die Presse geschürt wurden auch die moralischen Ängste in den frühen 50er Jahren. Damals fürchteten Mütter um ihre Söhne, denn angeblich gingen Werber der Fremdenlegion um, die Männer nicht nur davon überzeugten, für Frankreich ins Feld zu ziehen, sondern junge Deutsche sogar entführt haben sollen. Eine wahre Massenpanik brach aus, die schließlich dazu führte, dass gesetzlich eingelenkt wurde – das Anwerben von Fremdenlegionären wurde verboten. Zeitgleich fürchteten viele auch um die moralische Integrität der jungen Männer. Angst vor Homosexualität gesellte sich zur Angst vor Versklavung durch die Fremdenlegion. Das furchterregende Fremde kam also nicht nur von außen, sondern auch aus dem Inneren der moralisch anfälligen Jugend.
In den frühen 60ern entwickelte sich die Angst vor einem weiteren Krieg. Bereits 1954 räumten über 70% der Westdeutschen ein, sich „nicht sicher“ vor einem Atomangriff zu fühlen. (vgl. 137) Antikommunismus und der Kalte Krieg trieben die Menschen um. ABC-Waffen waren ein großes Thema. Im Herbst 1961 erhielten 18 Millionen deutsche Haushalte eine Postwurfsendung der Bundesregierung. Die Broschüre „Jeder hat eine Chance“ sollte die Bevölkerung auf einen Atomkrieg vorbereiten. Wie in den US-amerikanischen Werbefilmen, in denen Schüler sich unter ihren Bänken versteckten, während draußen das gleißende Licht der Atombombe die Welt in Schutt und Asche legte, wurde auch den Deutschen nahegelegt, sich auf dem Boden zu werfen und wenn möglich den Kopf mit einer Aktentasche zu bedecken. Als die Zeitschrift Quick im Januar 1962 schließlich Bilder des Regierungsbunkers im Ahrtal veröffentlichte („unter fünfzig Meter hohen Felsen“, 147), führte das zu einem Skandal, da für die Bevölkerung lediglich eine 15 Zentimeter dicke Aktentasche als Schutzmaßnahme reichen musste.
Die „moderne Angst“ vor der Automatisierung bildete die Kehrseite des „Wirtschaftswunders“. Gewerkschaften setzten sich damals für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ein, die zutiefst verunsichert auf die Umwälzungen reagierten.
Zur gleichen Zeit sorgte die „demokratische Angst“ für ein ungutes Gefühl. Auf der einen Seite stand die Angst vor dem Verfall der Staatsautorität, auf der anderen Seite die Befürchtung, dass man wieder in den Autoritarismus zurückfallen könnte. Erstmals fand auch eine Distanzierung von den Geschehnissen während der Zeit des Nationalsozialismus statt. Die Vergangenheit wühlte die Bevölkerung emotional auf und Margarete und Alexander Mitscherlich widmeten sich in einem Buch, das zum Bestseller avancierte, der „Unfähigkeit zu trauern“.
Die „revolutionäre Angst“, die vor allem die Neue Linke beherrschte und die Studentenbewegung der 68er hervorbrachte, gipfelte schließlich im Terror der 70er Jahre. Bezeichnend für die Neue Linke in den späten 60ern war die Ambivalenz zwischen Utopie und Pessimismus. Es wurde ein Utopie visualisiert und gleichzeitig fürchtete man das Scheitern der Revolution. Weite Teile der Bevölkerung begegneten den revolutionär gestimmten Studenten mit Hass. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (April 1968) und den anschließenden Studentenunruhen, schrieb ein „einfacher Arbeiter“ in einem Leserbrief an den Stern: „Gebt der Polizei die Vollmacht, einmal Flammenwerfer einzusetzen anstatt Wasserwerfer, und der ganze Spuk wäre vorbei.“ (268)
In diesen Jahren verstärkte sich auch die Tendenz, im eigenen Inneren zu wühlen. Es fand eine stetige Emotionalisierung statt, die sich schließlich auch politisch niederschlug. Während man der eigenen Vergangenheit über Jahrzehnte hinweg eher kühl und distanziert gegenübergetreten war, zeigte Willy Brandt sich am 7. Dezember 1970 beim Kniefall von Warschau erstmals offen überwältigt von seinen Emotionen die eigene Geschichte betreffend. Zur damaligen Zeit übernahmen Krankenkassen auch Psychotherapien in ihren Leistungskatalog und langsam begann man, Verdrängtes aufzuarbeiten.
Die „allgegenwärtige Angst“ kam aus dem Inneren des Menschen. Wozu der Mensch in der Lage war, demonstrierten Stanley Milgram (1961, in Deutschland erst 1974 veröffentlicht) und der deutsche Psychiater David Mantell eindrucksvoll in ihren sozialpsychologischen Experimenten. Die Ausstrahlung der Serie Holocaust im Januar 1979 sorgte schließlich erstmals für eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema, über das man jahrzehntelang geschwiegen hatte. Die Zuschauerinnen und Zuschauer waren erschüttert und ließen Emotionen zu, die sie auch verunsicherten.
Die 80er Jahre brachten schließlich die „apokalyptischen Ängste“ mit sich, die um die Zerstörung der Umwelt und den wieder stärker bedrohten Frieden kreisten.
Als Reaktion auf diese Angstkultur der 1980er Jahre entstand die Wahrnehmung durch „Zeitgenossen im In- und Ausland“ (416), dass eine Art nationale Kollektivpathologie existierte, die bezeichnend für die (West)Deutschen war: German Angst.
Die Ängste der Gegenwart werden im Epilog aufgegriffen. Hier geht es u.a. um die Stabilisierung fragiler Männlichkeit (449) sowie um die Ursachen des Rechtspopulismus (450). In der alljährlichen Angststudie der R+V Versicherung ergab sich 2018 ein erstaunliches Ergebnis. Am meisten fürchteten sich die Deutschen vor der Bedrohung durch die Politik Donald Trumps. Mittlerweile dürfte – allein schon aufgrund des trockenen und heißen Sommers – die apokalyptische Angst vor dem Klimawandel in den Vordergrund getreten sein. Entscheidend ist letztendlich immer der Umgang mit der Angst: Gelingt es, Angst in ein vernünftiges und problemlösendes Handeln münden zu lassen, oder lassen wir es zu, dass die ständige Medienberichterstattung zu einer Gewöhnung und damit zu „einer Art permanentem Alarmzustand“ (391) führt, der handlungslähmend wirkt?
Frank Biess hat ein ungeheuer spannendes und gehaltvolles Buch zu einem ausgesprochen interessanten Thema verfasst. Es ist wichtig, dass wir unsere Ängste reflektieren und uns auch historische Entwicklungen bewusst machen, die verdeutlichen, dass es im Grunde genommen stets die gleichen Ängste sind, die wiederkehren – mal als Angst vor dem Fremden im Außen, mal als Furcht vor dem fremdartigen Inneren. Besonders interessant fand ich, wie sehr sich die Einstellung im Hinblick auf Gefühle generell geändert hat – da gab es einen starken Wandel, weg von der gefühlskalten Distanzierung, die noch typisch für die Nachkriegszeit war, hin zu einer starken Emotionalisierung in den 1970er Jahren.
Das Buch war im Frühling völlig zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Eine Lektüre, die sich auf alle Fälle lohnt!

Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik
erschienen am 19. Februar 2019
www.rowohlt.de

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