„Vom Schicksal gebeutelte Bienenflüchtlinge“ – Andrej Kurkow erzählt vom Krieg in der Ukraine
Der ukrainische Autor Andrej Kurkow wurde durch seinen Roman „Picknick auf dem Eis“ einem breiteren Publikum bekannt und hat mittlerweile zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sein jüngster Roman heißt „Graue Bienen“ und greift nicht so sehr das Thema Umwelt auf, wie der Titel dies vielleicht zunächst suggeriert. Bienen sind derzeit ein beliebter Topos, um aufzuzeigen, welche Konsequenzen das Eingreifen des Menschen in Naturkreisläufe haben kann (vgl. „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde, „Das Herz einer Honigbiene hat fünf Öffnungen“ von Helen Jukes, „Bienen und Menschen – Eine Freundschaft“ von Olaf Nils Dube usw.).
Kurkows Thema ist aber der Krieg. Es geht nicht um einen fiktiven Krieg oder um einen Krieg in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern um die Gegenwart in Europa. Seit Anfang April 2014 herrscht in der Ukraine Krieg. Mehr als 13.000 Menschen sind ihm im Lauf der letzten fünf Jahre bereits zum Opfer gefallen. Die Kampfhandlungen finden vor allem in der Ostukraine statt, im Donbass (oder Donezbecken), einem Steinkohle- und Industriegebiet, das sich auf beiden Seiten der ukrainisch-russischen Grenze befindet. Prorussische Separatisten kämpfen dort gegen Ukrainer. Derzeit gibt es in der Ukraine über eineinhalb Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass. Hier in Deutschland kriegen wir nur wenig davon mit, wie es den Menschen in der Ostukraine geht. Auch die seit März 2014 annektierte Krim ist nur noch selten Thema. Nun hat Kurkow diesen Krieg, der seit so vielen Jahren in Europa herrscht, literarisch aufgearbeitet.
Im Mittelpunkt steht Sergejitsch, ein 49-jähriger Frührentner, der sich als ehemaliger Inspektor für Sicherheit im Bergbau eine Staublunge zugezogen hat und in der „grauen Zone“, dem umkämpften Niemandsland zwischen den Fronten, lebt. Das Dörfchen Malaja Starogradowka ist von seinen ehemaligen Bewohnern fast vollständig verlassen worden, die Kirche wurde durch einen Raketeneinschlag zerstört, der Lärm der Geschütze wird von den letzten zwei Bewohnern nur noch als „Kriegsstille“ (177) wahrgenommen. Irgendwann liegt ein Toter auf dem Feld hinter dem Dorf, den keiner zu beerdigen wagt. Der Zweite, der neben Sergejitsch zurückgeblieben ist, heißt Paschka. Er ist der „Feindfreund“ (52), mit dem sich Sergejitsch schon seit der Schule nicht wirklich verträgt. Der Krieg hat die Männer aber zusammenrücken lassen. Im Spätwinter 2016 harren sie der Dinge, die da kommen mögen. Sie leben ohne Strom in ihren Häusern, die sie mit Kerzen aus der ausgebombten Kirche erhellen und mit Kohlen beheizen, die sie den humanitären Hilfsaktionen von Baptisten verdanken. Würden sie nicht Tauschgeschäfte mit Soldaten und den Bewohnern von Nachbardörfern, die noch nicht ganz so verlassen wie Malaja Starogradowka sind, betreiben, wären sie längst verhungert. Sergejitsch, der bereits vor dem Krieg von seiner Frau Witalina und der gemeinsamen Tochter Angelina verlassen worden ist, sieht nur noch wenig Sinn in seinem Leben, doch eine Sache treibt ihn an: die Verantwortung für seine Bienen, die in einem Schuppen überwintern. Als der Frühling vor der Tür steht, fasst der Bienenzüchter einen Entschluss. Weil er weiß, dass der Lärm der Explosionen die Bienen verstört und orientierungslos macht, beschließt er, die graue Zone zu verlassen, um ein ruhigeres Plätzchen für seine Tiere zu finden, an dem sie sorglos Nektar sammeln können. Hier sind es nicht die Pestizide, die den Bienen zur Gefahr werden, sondern die Kampfhandlungen:
„Aber die Bienen, sie verstanden doch überhaupt nicht, was Krieg war! Die Bienen konnten sich nicht von Frieden auf Krieg umstellen und von Krieg auf Frieden wie die Menschen. Die Bienen konnten zwar fliegen, aber sie flogen nicht weiter als fünf Kilometer, das hieß sie waren hilflos in jeder Hinsicht außer in ihrer Haupttätigkeit, für die sie von der Natur und von Gott bestimmt waren, dem Nektarsammeln.“ (199f.)
Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen macht sich Sergejitsch deshalb auf den Weg in Richtung Westen. Mit seinem Lada Schiguli und einem Anhänger, auf dem die Bienenstöcke deponiert sind, reist er durchs Land, um seinen Bienen ein bisschen Frieden zu bieten. Er landet zunächst in der Nähe von Wessele, was so viel wie „fröhlich“ bedeutet und lässt sich dort nieder. Doch als vermeintlicher Flüchtling hat er es nicht leicht und so führt ihn seine Suche nach Ruhe auf die seit März 2014 von den Russen annektierte Krim. Dort sucht er nach dem Krimtataren Achtem Mustafajew, einem ehemaligen Bekannten, den er vor mehr als 20 Jahren auf einem Imkerkongress kennengelernt hat, doch er trifft in seinem Haus nur dessen Frau Ajsylu und die beiden erwachsenen Kinder Ajsche und Bekir. Nach 90 Tagen auf der Krim muss er wieder zurück in die graue Zone, denn einige seiner Bienen sind mittlerweile grau geworden…
Andrej Kurkow erzählt lebendig und berührend von einem Krieg, über den wir nur sehr wenig wissen. Mit dem eigenbrötlerischen Sergejitsch verleiht er den Menschen in der grauen Zone ein Gesicht und eine Stimme. Der Roman erzählt in der ersten Hälfte vom Leben im verlassenen Dorf. Dieser Teil erinnert etwas an das Leben in der verstrahlten Zone rund um Tschernobyl. In der zweiten Hälfte wird schließlich eine Art Roadtrip geschildert, der geprägt ist von den Unsicherheiten im Land. Checkpoint reiht sich an Checkpoint, Kriegsversehrte drehen durch, Dorfbewohner sind voller Hass auf die Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten und die Behördenwillkür auf der annektierten Krim reißt den Betroffenen den Boden unter den Füßen weg. Doch trotz des schweren Schicksals, das die Menschen und die „Bienenflüchtlinge[..]“ (287) erleiden müssen, versinkt die Erzählung niemals in der Verzweiflung. Kurkow ist bekannt für seine Leichtfüßigkeit und seinen Humor, der unter diesen Umständen schwärzer ist als das Grau, das den Krieg symbolisiert.
Andrej Kurkow: Graue Bienen
aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Sabine Grebing
erschienen am 24. Juli 2019
www.diogenes.ch
Es ist ein außergewöhnliches Buch. Andrej Kurkow hat viele außergewöhnliche Bücher geschrieben. Er trifft immer ins Schwarze. In seinen Geschichten schildert er Personen des normalen Lebens die mit ihren Mitmenschen in herzlicher Symbiose leben. Das Weltgeschehen wird immer exakt mit eingebunden. So erfahren wir die Realität in der Ukraine mit ihren Dorfgeschichten und mit ihrem Wahnsinnskrieg gegen einen übermächtigen Feind. Kurkow schreibt witzig, exakt und immer treffend. Es ist eine Freude Sergejitsch zu begleiten auf seinen unglaublichen Streifzügen. Graue Bienen ist ein excellent geschriebenes Buch und übertrifft alles bisherige. Andrej Kurkow ist das beste was die Ukraine zu bieten hat. Ein wahres Erlebnis.