„Wurzeln schlagen ist dort leichter, wo vieles im Erdreich verrottet“ – Raphaela Edelbauer erzählt von einem sinkenden Land und seinen Bewohnern
Von Raphaela Edelbauers Debütroman „Das flüssige Land“ geht eine Sogwirkung aus, der ich mich nicht entziehen konnte. Die 29-jährige Autorin ist ein absolutes Ausnahmetalent – sie weiß sowohl sprachlich als auch inhaltlich zu überzeugen. Auf 350 Seiten entwickelt sie eine Geschichte, die einen nicht loslässt.
Im Herbst 2007 erreicht die Physikerin Ruth Schwarz, die gerade über ihrer Antrittsvorlesung und der Habilitation sitzt, eine erschütternde Nachricht: Ihre Eltern sind mit dem Auto tödlich verunglückt. Als sie aus der Schockstarre erwacht und die Beerdigung vorbereiten will, äußert ihre Tante, dass es stets der Wille der Eltern gewesen sei, in ihrer Heimatgemeinde Groß-Einland beerdigt zu werden. Ruth, die bereits seit Jahren nur noch dank diverser Psychopharmaka funktioniert, macht sich auf die Suche nach dem Herkunftsort der Eltern – doch Groß-Einland ist nirgends zu finden. Auch bei den Behörden hat man noch nie von einem Ort dieses Namens gehört. Die junge Frau fährt kreuz und quer durch das Wechselgebiet – der Wechsel ist ein Mittelgebirge im Osten Österreichs – und sucht in ihrem Gedächtnis verzweifelt nach entscheidenden Anhaltspunkten. Dabei stellt sie fest, dass sie relativ wenig über die Eltern und deren Vergangenheit weiß. Der Vater, Erich Schwarz, und die Mutter Elisabeth Schalla, sind wie Geschwister aufgewachsen, nachdem Erichs alleinerziehende Mutter sich nicht mehr um den Sohn kümmern konnte. Als sie beschlossen, zu heiraten, wurde die Adoption rückgängig gemacht. Ab und an erzählten die Eltern von Groß-Einland, etwa von einem besonders alten Baum oder von einer Wiese, doch Ruth tappt lange im Dunkeln. An einer Tankstelle belauscht sie schließlich zufällig den Dialog zweier Männer, von denen einer erwähnt, dass er nach Groß-Einland fahre und Ruth folgt ihm. Nach einer abenteuerlichen Fahrt durch den Wald landet sie mit ihrem völlig derangierten Auto tatsächlich in dem Ort, der sich nicht finden lassen wollte.
Groß-Einland scheint aus der Zeit gefallen zu sein, nicht weil der technische Fortschritt dort nicht Einzug gehalten hat – in diesem Punkt unterscheidet sich der Ort nicht von anderen Gemeinden. Aber die Bewohner sind ausgesprochen eigen und neben der neuen, modernen Ordnung, existiert auch noch eine alte Ordnung, die vor allem durch die Gräfin Knapp-Korb von Weidenheim verkörpert wird, die Groß-Einland wie eine Monarchin regiert. Doch der Boden, auf dem das Städtchen steht, bröckelt. Groß-Einland ist unterhöhlt. Seit dem 17. Jahrhundert hat die Bergbauindustrie Löcher in den Untergrund getrieben – zunächst war es der Silberrausch, der die zum Mythos geronnene Gründerfigur der Gemeinde, Pergerhannes, dazu veranlasste, nicht nur die Natur auszubeuten, sondern auch Menschenleben zu opfern. Später wurde der Boden auf der Suche nach Gold, Kupfer und Uran ausgehöhlt. Und nun muss man sich mit den Folgen auseinandersetzen. Ruth, die sich in Groß-Einland zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich angekommen fühlt, soll auf Wunsch der Gräfin eine Schlüsselrolle bei der Rettung des Ortes spielen. Doch das, was von ihr verlangt wird, überfordert sie zunächst und führt schließlich zu einem ethischen Dilemma…
Was für ein sprachgewaltiger und atmosphärisch dichter Roman! Das riesige Loch, das die Menschen durch die Ausbeutung der Natur selbst erzeugt haben, wird hier zur alles verschlingenden Bedrohung. Wie ein mächtiger Mahlstrom oder ein schwarzes Loch, entfaltet es eine beängstigende Sogwirkung. Doch die Betroffenen verdrängen die existenziellen Ausmaße der Bedrohung. Die Gräfin möchte das Ganze gar als Touristenattraktion vermarkten. Das durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen entstandene Loch, das irgendwie gestopft werden muss, weil es sonst zur Auslöschung der darüber angesiedelten Menschen führt, kann natürlich auch exemplarisch für die Ausbeutung der Natur durch den Menschen stehen. Um den Status quo zu erhalten, wird allerlei Flickwerk betrieben, doch eine nachhaltige Lösung ist nicht in Sicht – und die Lösung, die möglich wäre, ist in Wirklichkeit gar keine. Während es um die Zukunft Groß-Einlands düster bestellt ist, sucht Ruth auch nach Spuren der Vergangenheit. In Chroniken liest sie von der Geschichte des Ortes, der auch in der Zeit des Nationalsozialismus Schauplatz einer unfassbaren Tragödie geworden ist – doch bis auf Ruth hat keiner Interesse daran, diese Sache aufzuarbeiten.
Raphaela Edelbauer erzählt sprachlich brillant und kafkaesk von einem Ort, der aus der Zeit gefallen scheint, der aber gleichzeitig Kristallisationspunkt zahlreicher Probleme der Gegenwart ist. Was für ein großartiges Buch!
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land
erschienen am 24. August 2019
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