„An den Zeiten erkrankt.“ – Alexander Osang entfaltet anhand seiner Familiengeschichte ein Panorama des 20. Jahrhunderts
Der 43-jährige Filmemacher Konstantin Stein lebt in Berlin, hat einen 12-jährigen Sohn und wurde von seiner Partnerin verlassen. Er steckt sowohl in einer beruflichen als auch in einer privaten Krise, denn die Netflix-Miniserie über einen serbischen Tennisspieler mit vielfältigen Fluchterfahrungen interessiert keinen Geldgeber und seine Mutter steckt seinen an Demenz erkrankten Vater ins Pflegeheim. Seine Mutter ist auch der Auffassung, dass er noch nicht den richtigen Stoff gefunden habe und sich deshalb mit der Geschichte seiner, beziehungsweise ihrer Familie auseinandersetzen solle. Zunächst weigert er sich, doch nach einem Gespräch mit seiner Tante Vera wird ihm bewusst, dass die Familie Silber, insbesondere seine Großmutter mütterlicherseits, Jelena Silber, Dinge erlebt haben, die auch für ihn von Bedeutung sind.
Bereits bei seiner Jugendweihe erklärte seine Tante ihm: „Ich glaube, dass alles mit allem zusammenhängt. Unsere Leben. Auch ihr Leben und deins. Irgendwann wirst du das merken.“
Mit über 40 ist es dann soweit: Konstantin Stein begibt sich auf die Spur seiner Vorfahren. Sein Urgroßvater war ein Revolutionär im zaristischen Russland. 1905 wurde er von den Häschern des Zaren gepfählt – dieser ungeheuerliche Mord bildet auch den Auftakt des Romans. Jelena wird so bereits im Alter von zwei Jahren zur Halbwaisen. Gemeinsam mit der Mutter und ihrem großen Bruder fliehen sie, um nicht auch noch umgebracht zu werden. Als junge Frau liebt Jelena Alexander, dessen Vater zum Tode verurteilt wird, weil er Jelenas Vater umgebracht hat. Die beiden Liebenden verbindet also der politisch bedingte Verlust ihrer Väter. Doch wenig später lernt Jelena den deutschen Tuchhersteller Robert Silber kennen, der sich in sie verliebt und sie mitnimmt. Zunächst nach Moskau, dann nach Leningrad und schließlich nach Berlin und Sorau, wo sie in der Villa der Tuchherstellerfamilie den Krieg und dessen Ende erleben wird. Das Paar bekommt fünf gemeinsame Töchter, doch die jüngste von ihnen stirbt an Diphterie, weil während des Krieges kein Impfstoff vorhanden war. Eine der Schwestern, Maria, wird später Konstantins Mutter sein. Während der Zeit des Nationalsozialismus ist Robert Silber oft abwesend – nach vielen Jahren wird Konstantin bewusst, dass sein Großvater an den Gräueltaten der Nationalsozialisten beteiligt war, die unweit von Sorau ein Konzentrationslager errichtet hatten. Doch Jelena versuchte stets, sich mit ihrem Mann zu arrangieren: „Robert F. Silber war ein guter Mann, aber die Zeiten waren nicht gut.“
Schuld sind die schlechten Zeiten, die Menschen verändern: „Sie lebten in einer Übergangszeit, einer Zwischenwelt. Eine Welt in der jeder von ihnen Rückzugsmöglichkeiten behielt, Inseln. Sie wusste nicht, wie lange die bleierne Zeit dauern würde, sie wusste nicht, was ihr Mann eigentlich tat in Moskau. Sie wusste nicht, wer die Männer waren, mit denen er sich traf, sie ahnte, dass es Zugeständnisse an diese Übergangsphase waren.“
Nach dem Krieg muss Jelena gemeinsam mit ihren Töchtern – ihr Mann Robert ist mittlerweile verschwunden – wieder fliehen. Sie landet in Pirna und schließlich in Berlin, wo sie hofft, Alexander wiederzusehen, der mittlerweile beim Militär Karriere gemacht hat. In tiefer Verzweiflung möchte sie sich und ihre Töchter vergiften, doch Lara, ihre älteste Tochter, bewahrt die Frauen vor diesem Schicksal. Und so zieht die Familie immer weiter: „Das Flüchten an sich wird zu einer Art Lebenshaltung.“
Es sind die Flüsse, die Jelena stets begleiten: Wolga, Oka, Moskwa, Neva, Spree, Bober, Elbe. Als sie ihre Enttäuschung darüber, dass die Flüsse immer kleiner und unbedeutender würden, einem Arzt mitteilt, antwortet ihr dieser: „Flussaufwärts bedeutet: Der Quelle entgegen. Das ist die Reise, die ich normalerweise mit meinen Patienten antrete. Eine Reise zur Quelle des Leids. Sie, Frau Silber, haben sich wohl eher flussabwärts bewegt. Weg von den Quellen. Zumindest im übertragenen Sinne.“
Konstantin macht sich schließlich gemeinsam mit seinen Eltern und mit seinem Cousin Juri auf den Weg zu den Quellen. Er besucht all die Orte, an denen seine Großmutter einst lebte, um herauszufinden, wo er herkommt.
„Die Leben der Elena Silber“ entfaltet ein eindrucksvolles Panorama des 20. Jahrhunderts. Allerdings finde ich, dass das Buch auch einige Längen hat.
Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber
erschienen am 14. August 2019
www.fischerverlage.de