„Solange niemand etwas von mir wusste, konnte ich alles erzählen.“ – Norbert Gstrein lässt einen Mann zu Wort kommen, der sein Leben erfindet
Der Mensch ist ein unzuverlässiger Erzähler. Erinnerungen betrügen uns oft. Mit der Realität haben sie häufig weniger zu tun als wir denken.
Franz, der Ich-Erzähler in Norbert Gstreins Roman „Als ich jung war“, ist ein unzuverlässiger Erzähler, der zwar eine Geschichte erzählt, aber viele Geschichten weglässt oder eben anders erzählt. Als Sohn eines Hoteliers wächst er im Winter in dem Hotel in den Bergen auf und verbringt die Sommermonate in einem Restaurant, das die „Hochzeitsfabrik“ genannt wird, weil an jedem Wochenende Hochzeiten gefeiert werden. Mit 15 fängt Franz an, bei den Feiern zu fotografieren. Jedes Paar setzt er vor der „Unendlichkeitsschleife“, die Fluss und Autobahn im Hintergrund bilden, in Szene. Das wird sein Markenzeichen. Doch eines Tages stirbt eine Braut. Sie stürzt in ihrer Hochzeitsnacht den Abhang hinab, an dem Franz das Paar noch wenige Stunden vorher fotografiert hat. Was ist passiert? Und gibt es eine Verbindung zu den Ereignissen, die sich kurz vorher bei einer anderen Hochzeit zugetragen haben, als Franz Sarah geküsst hat, die angeblich 17 war, in Wirklichkeit aber erst 13? Warum hat der mittlerweile erwachsene Franz Sarah geküsst, die das eigentlich nicht wollte?
Nach dem rätselhaften Tod der Braut, verschwindet Franz nach Amerika. In den Rocky Mountains arbeitet er als Skilehrer und lernt auf diese Weise den Professor für Raketenphysik, Jan Moravec, kennen. Franz passt sogar zeitweise auf das Haus des Professors auf, ahnt aber nicht, welche Rolle er für ihn spielt. Als auch Moravec eines Tages zu Tode kommt, erfährt Franz, dass er der Mensch war, der ihm wohl am nächsten stand, obwohl Moravec sogar verheiratet war.
Was haben die beiden Ereignisse mit Franz zu tun? Und warum verschwindet schließlich auch noch eine Frau, die mit ihm einen Ausflug gemacht hat? Der Ich-Erzähler ist selbst zusehends verunsichert. Und er erinnert sich an seine eigene Kindheit und Jugend, in der er im Internat von älteren Schülern tagtäglich missbraucht wurde.
Wieso hat er selbst schließlich eine 13-Jährige missbraucht? Und warum macht er sich vor, dass sie schon 17 war? Welche Rolle spielen Erfahrung und Verdrängung für uns? Franz erinnert sich: „Genau zwei Tage vor seinem Tod hatte der Professor zu mir gesagt, er sei überzeugt, dass jeder Mensch wenigstens eine Geschichte in seinem Leben habe, von der er nicht wolle, dass jemand anderer sie zu hören bekomme, es gebe bei jedem ein Zentrum des Schweigens, ein Zentrum der Scham, an das er sich selbst kaum heranwage. Wir seien immer nur einen Schritt davon entfernt, aus unserem Alltag hinauszukippen, zwei Schritte davon, eine ganz andere Richtung einzuschlagen, ob wir uns für sie entschieden oder ob sie uns aufgezwungen würde, und drei von einer Existenz am Rande der Gesellschaft.“
Es sind die nicht erzählten Geschichten und die stattdessen erzählten Geschichten, die im Mittelpunkt von Norbert Gstreins Roman stehen. Es ist eine Reise an die inneren Abgründe, an die man sich kaum heranwagt.
Hoffnung bietet am Ende eigentlich nur ein Neuanfang: „Solange niemand etwas von mir wusste, konnte ich alles erzählen, und das war ein guter Anfang.“
Norbert Gstrein ist mit „Als ich jung war“ ein spannender Roman gelungen, der Dimensionen menschlichen Verhaltens auslotet, die wir meistens lieber ausblenden. Sprachlich souverän erzählt der Autor von Missbrauch aus Täter- und Opferperspektive.
Norbert Gstrein: Als ich jung war
erschienen am 22. Juli 2019
www.hanser-literaturverlage.de