„Die Kunst muss das Leben ändern, dafür ist sie da.“ – Thomas Hettche erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste
Jim Knopf und Prinzessin Li Si, das Urmel und der Räuber Hotzenplotz – mit diesen Figuren der Augsburger Puppenkiste sind in Deutschland zahlreiche Kinder aufgewachsen. In unserer Familie singen wir heute noch Li Sis Weglauflied oder zitieren den Kasperl, die Großmutter und den Zauberer Zwackelmann aus dem Räuber Hotzenplotz.
Thomas Hettche lässt nun ein zwölfjähriges Mädchen von heute, dem Puppenkistenalter eigentlich schon entwachsen und mit iPhone ausgestattet, in die Welt der Marionetten und in die Geschichte eines legendären Puppentheaters eintauchen. Bei einem Besuch in der Augsburger Puppenkiste gerät es durch eine Tür in eine verwunschene Welt – wie in „Narnia“ oder „Alice im Wunderland“ findet ein Übergang statt und plötzlich hat die Jugendliche selbst nur noch die Größe einer Marionette. Auf dem Mondlichtteppich des Dachbodens trifft sie die hölzernen Helden der Puppenkiste – Li Si und das Urmel, Kalle Wirsch, den Storch und viele andere. Und eine rauchende Frau in Menschengröße: die Puppenschnitzerin Hannelore „Hatü“ Marschall, geborene Oehmichen. Sie steht gemeinsam mit ihren Figuren im Zentrum der Geschichte. Vor allem ihre auf der Kinderlandverschickung selbstgeschnitzte Marionette, das Kasperl, wird eine besondere Rolle spielen.
Auf dem Mondlichtteppich erzählen Hatü und ihre Marionetten das Leben der Frau, die die Puppenkiste von ihrem Vater übernommen und an ihren Sohn, der sie heute noch leitet, weitergegeben hat. Hatü, 1931 geboren, war die Tochter von Walter und Rose Oehmichen. Der Vater war Schauspieler, Regisseur und Oberspielleiter am Stadttheater Augsburg. 1943 baute er sein erstes Marionettentheater, den „Puppenschrein“, der 1944 bei dem Bombenangriff auf Augsburg zerstört wurde. Hatü und ihre große Schwester Ulla erleben den Krieg als Kinder und Jugendliche. Der Vater ist zwar kein bekennender Nationalsozialist, aber auch kein Widerständler. Der Krieg hinterlässt Spuren bei der Familie. Hatü und ihre Freundin machen sich auf die Suche nach einer jüdischen Klassenkameradin, die verschwunden ist, sie verbringen Nächte im Bunker und müssen Verluste verkraften. Und trotzdem bricht sich das Leben Bahn: Hatü verliebt sich und wird Puppenschnitzerin. Und sie trägt dazu bei, dass die Puppenkiste sich wandelt – sie überzeugt ihren Vater davon, nicht nur die klassischen Märchen zu spielen, sondern auch „Den kleinen Prinzen“ und „Jim Knopf“ nach der Vorlage von Michael Ende.
Der Titel greift eine Definition des Herzfadens von Walter Oehmichen, Hatüs Vater, auf: „‘Der Herzfaden?‘, fragt Hatü. ‚Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.‘“
Thomas Hettche erzählt einfühlsam und fantasievoll die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, der dunkelsten Tage in Deutschland und des Neuanfangs nach dem Dritten Reich. Dabei werden nicht nur die menschlichen Protagonisten lebendig, sondern auch die hölzernen Helden, allen voran das Kasperl, das etwas Verstörendes an sich hat. Es entwendet dem Mädchen sein iPhone und wächst. Hatü, die das Kasperl selbst geschnitzt hat, fürchtet sich vor ihrer Schöpfung, weil sie ihr die eigene Rolle im nationalsozialistischen Machtgetriebe vor Augen führt. Sie hat ihre Puppe unbewusst mit den Stereotypen antisemitischer Propaganda ausgestattet.
Dem Autor ist mit „Herzfaden“ eine berührende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gelungen. Gerade die Rahmenhandlung, die an Kinderbuchklassiker erinnert, macht den besonderen Reiz des Romans aus. Ein Titel, der zu Recht auf der diesjährigen Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
erschienen am 10. September 2020