„So will ich denn reden und reden, bis der Morgen graut“ – Christine Wunnicke erzählt von der Begegnung zweier Gelehrter, die sich gekonnt missverstehen
1764 AD, beziehungsweise nach islamischer Zeitrechnung 1177 AH (Anno Hegirae, Jahr der Hidschra): Auf der der Stadt Mumbai vorgelagerten Insel Elephanta, ehemals Gharapuri, treffen zwei Gelehrte aus unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinander. Der muslimische Astrolabien-Bauer Musa ist auf dem Weg nach Mekka bei einer Flaute auf der „struppigen“ Insel gestrandet und trifft dort auf den deutschen Mathematiker, Karthographen und Forschungsreisenden Carsten Niebuhr, dessen gesamtes Expeditionsteam bereits dem Wechselfieber zum Opfer gefallen ist. Doch der robuste Bauernjunge aus dem Bremischen wird überleben. In der historischen Shiva-Halle, für die Elephanta bekannt ist, liegt Niebuhr bereits zum zehnten Mal im Fieber als Musa und sein Diener Malik ihn finden und sich um ihn kümmern. Auf diese Weise entsteht so etwas wie eine Freundschaft zwischen dem östlichen und dem westlichen Gelehrten, die vorzugsweise aneinander vorbeisprechen.
Die Beiden machen sich unterschiedliche Bilder von der Welt und dem ganzen Rest, etwa einem Sternbild, das beiden vertraut ist: „Der Astronom aus Jaipur blickte hinauf zur Dame-mit-der-bemalten-Hand. Die Griechen nannten die Hand Kassiopeia. Gewiss war dies auch eine Dame, aus alter griechischer Zeit. Die Hand sah Meister Musa rot. Dies war die einzige Stelle am Firmament, wo sein Kreidebild nicht weiß war. Die Hennahand der himmelumspannenden Dame war röter noch als der Merrikh-Mangala-Mars. Er räusperte sich. Manchmal rührten ihn die großen Bilder der Nacht.“
Während Musa also eine bemalte Hand sieht, nimmt Niebuhr eine ganze Dame in den Gestirnen wahr: „‚Zeig mir, wie du Kassiopeia siehst. Wo fängt sie an und wo ist sie zu Ende?‘ ‚Fünfundvierzig der Rocksaum, Siebenunddreißig das Knie, Achtzehn und Elf die Schultern.‘ ‚So klein‘, seufzte Musa. ‚Ihr seht das ganze Weibsbild in den paar Sternen. Wir sehen dort nur ihre bemalte Hand.‘ ‚Und wo ist der Rest?‘ ‚Ihr Ellenbogen ist Flamsteed dreiunddreißig Persei!‘ Musa breitete die Arme aus. ‚Ihr Kopf ist in Taurus! Die Dame-mit-der-bemalten-Hand umspannt den halben Himmel. Die griechische Kassiopeia, das lateinische VV, sind ihre gespreizten Finger. Sie spreizt sie, um sie besser anmalen zu können.“
Die Männer nähern sich – Arabisch sprechend – einander an und bewahren stets ihre Eigenheiten, die nicht selten zu komischen Situationen führen. Der überbordende orientalische Erzählstil Musas trifft häufig auf Unverständnis seitens des Deutschen, der im Auftrag der dänischen Krone auf der Suche nach Beweisen für die Wahrheit der biblischen Geschichten ist. Oft muss Musa mehrfach erklären, was er meint: „‚Er war der klügste Mensch, der je meinen Lebensweg kreuzte. Berührte er meinen Schatten, musste ich nachher baden.‘ Niebuhr schwieg. Nach einer Weile sagte er, ‚Ich kann dir nicht folgen.‘ ‚Berührte er meinen Schatten, musste er nachher baden‘, wiederholte Musa langsam und deutlich. ‚Ich verstehe dich nicht.‘ ‚Hörte ich Jagannathas Geschichten, musste ich nachher lügen‘, sagte Musa. ‚Verstehst du dieses?‘“
Auch für die ausufernde Beschreibung weiblicher Schönheit hat Niebuhr keinen Sinn: „‚Sie war schön wie der junge Lotos‘, setzte Musa lächelnd auf Persisch hinzu, ‚zart wie die Primel und wie Nektar so süß und ihre Stimme so mild wie der Morgenwind. Ihr Lachen war wie Perlen in einem Bett aus Koralle, die Gestalt gerundet an den richtigen Stellen, die Taille biegsam und lang und die Brüste hoch und so eng beisammen, dass sie alles zerdrückten, was dazwischen geriet. Ihr Nabel war tief wie ein Tümpel und die drei Fältchen ihres Bauches waren die Sprossenleiter des Liebesgotts, wie der Dichter sagt.‘ ‚Hmm‘, schnurrte Malik. Dann schlief er ein. ‚Bitte was?‘, fragte Niebuhr.“
Nach einer ausufernden Erzählung Musas, ist der deutsche Forschungsreisende ratlos: „‚Ich kann dir nicht folgen‘, stellte Niebuhr fest. ‚Sorge dich nicht um die Einzelheiten.‘ Meister Musa lächelte. ‚Ich verbreite nur indische Stimmung, damit du dich indisch fühlst.‘“
Musa wiederum hegt Zweifel an der Gläubigkeit des Deutschen, der sich fiebernd nicht an Gott wendet: „‚Du betest nicht einmal, wenn du an des Todes Pforte stehst. Du bist der miserabelste Christ aller Christen.‘ ‚Was weißt du…‘ ‚Ich saß daneben. Da kam nichts außer ‚Mama‘ und ‚Hilfe‘.‘ ‚Ich sprach Deutsch als ich krank lag, nehme ich an, mit Verlaub!‘ ‚Und ich kann ‚Mama‘ und ‚Hilfe‘ von einem Gebet unterscheiden, in jeder Sprache der Welt.‘ Meister Musa saß vom Feuerschein umflackert und lachte lautlos vor sich hin.“
Und doch gibt es auch Gemeinsamkeiten, die die beiden Gelehrten verbinden, etwa ihre leidenschaftliche Neugier: „‚Wem oder was gilt deine Liebe? Was liebtest du, wenn du dürftest?‘ […] ‚Den Dingen‘, sagte Niebuhr. ‚Der Welt, glaube ich, gilt sie. All ihren Dingen. Einem gewissen … Interesse an allem. Einer gewissen … betrachtenden Neugier. Doch dafür werde ich nicht bezahlt.‘ […] ‚Meine Liebe‘, sagte Musa, ‚gilt auch nicht der Mathematik. Sie gilt den Sprachen. Den Leuten, die sie sprechen, und dem, was sie sprechen, und wie sich alles zusammenreimt. Doch dafür bezahlt man mich auch nicht. Ich bin kein Shuka.‘ ‚Kein was?‘ ‚Ein Vogel, der redet. Ich weiß das arabische Wort nicht.‘“
Carsten Niebuhr (1733-1815) hat es wirklich gegeben. Er kartographierte erstmals das Rote Meer und den Jemen. Musa ist eine fiktive Gestalt, der Christine Wunnicke auf wunderbare Weise Leben eingehaucht hat. Der passionierte Astrolabien-Bauer verzweifelt angesichts der Tatsache, dass eines seiner Meisterwerke im Haushalt eines Idioten landen wird. Und Musa ist ein leidenschaftlicher Erzähler, der zum Schluss sogar erzählend eine Geburt begleitet.
Die Autorin hat mit „Die Dame mit der bemalten Hand“ einen biographischen Roman mit herrlich komischen Szenen erschaffen. Wer Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, Alex Capus‘ „Eine Frage der Zeit“ oder Ilija Trojanows „Der Weltensammler“ mochte, wird auch Vergnügen an Christine Wunnickes Roman finden, der in diesem Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht.
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand
erschienen am 25. August 2020
www.berenberg-verlag.de