„Der Frieden, die stille Präsenz der Eiche, zieht mich zu ihr zurück.“ – Eine Liebeserklärung an einen Baum
Die Briten haben ein besonders Verhältnis zur Natur und ein Faible für literarische Naturbeobachtungen. Bücher wie „Der Wanderfalke“ von John Alec Baker und „Der Geschmack von Laub und Erde“ von Charles Foster sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Nun hat James Canton, der Leiter des Studiengangs „Wild Writing“ an der University of Essex ebenfalls ein Meisterwerk dieses Genres verfasst: „Biographie einer Eiche. Was alte Bäume uns lehren (wen wir nur langsam genug zuhören)“ ist ein literarisches Juwel.
Wild Writing ist die Kunst der kreativen Naturbeschreibung. Im Grunde genommen ist es eine Art Meditation und oft eine Liebeserklärung. In einem tagebuchähnlichen Bericht, den er über zwei Jahre hinweg verfasst hat, nähert sich Canton einer achthundert Jahre alten Honywood-Eiche an, die in Essex steht. Einst war sie Teil eines Eichenwaldes, der allerdings vor mehreren Jahrzehnten gefällt wurde. Was bleibt ist die Erinnerung. Die Lektüre ist angesichts der liebevollen, fast zärtlichen Beschreibungen unheimlich berührend. Wer die „Biographie einer Eiche“ liest, wird einem alten Baum nicht mehr gleichgültig begegnen können.
Aus einer Haltung der Achtsamkeit heraus beobachtet Canton den Baum im Lauf der Jahreszeiten. Und er erzählt eine Menge über Eichen und Bäume im Allgemeinen – es handelt sich um ein literarisches Sachbuch mit emotionalen Elementen. Mit eindringlichen Worten schildert er in einer dichten, poetischen Sprache seine beglückende Beziehung zu einem Lebewesen, das selbst ein eigenes Ökosystem bildet. Canton beschreibt den vielfältigen Mikrokosmos in der Eiche, beobachtet die flatternden Schmetterlinge und andere Baumbewohner. Er klettert in die Eiche, um sie zu spüren, die faltige Borke zu fühlen, die ihn an Elefantenhaut erinnert. In Gedanken begibt er sich auf eine Zeitreise und erklärt, dass Eichen schon seit langer Zeit von Menschen genutzt werden, um der Mitmenschen zu gedenken, die die Eiche in früheren Tagen gesehen haben mag.
Und er führt Gespräche mit Menschen, die sich mit Bäumen beschäftigen – mit einem Förster und einem Waldarbeiter, einem Schreiner und einem Möbelbauer. Er befragt auch einen Psychologen zur Beziehung zwischen Baum und Mensch. Von ihm erfährt er, dass Bäume nachweislich dazu in der Lage sind, Menschen mit Ruhe zu erfüllen. Eine Eiche kann also auch Therapeut sein – auch wenn manch einer „Baumstreichler“ milde belächeln mag: Die Wissenschaft zeigt, dass ihr Tun tatsächlich positive Effekte auf das Wohlbefinden hat. Warum das so ist, bleibt ein Geheimnis. Der Autor stellt die heilsame und beruhigende Wirkung der Eiche auch bei sich selbst fest. Er kommt zur Ruhe, kann Stress besser verarbeiten und gelassener mit Ärger umgehen. Die Eiche ist quasi seine Lehrmeisterin, die ihn in die Kunst der Achtsamkeit einführt.
Der liebevolle Blick auf die Natur und die poetischen Beschreibungen des Betrachteten bringen auch den Leser zur Ruhe. Es ist nicht schwer, eine Beziehung zu einem Baum aufzubauen. Wie sehr das einen Menschen stärken und bereichern kann, zeigt Canton eindrucksvoll in seinem Buch. Eine Lektüre, die ich wärmstens empfehlen kann!
James Canton: Biografie einer Eiche. Was alte Bäume uns lehren (wenn wir nur langsam genug zuhören)
208 Seiten
erschienen am 16. Juli 2021
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/canton-biografie-einer-eiche-9783832171209/