Rezension: „Die Tagesordnung“ von Éric Vuillard

„Die Welt gehorcht dem Bluff“ oder Hintergrundgeschichten

Éric Vuillard erzählt die Geschichte vom Aufstieg Hitlers und der Nationalsozialisten nicht auf die herkömmliche Weise. Nicht die große Erzählung vom gekränkten Postkartenmaler, der durch seine rhetorischen Fähigkeiten und überragenden politischen Erfolge zum Gröfaz wurde, steht im Mittelpunkt, sondern die Hintermänner, die diese Entwicklung überhaupt erst ermöglicht haben. Die astronomischen Summen, die die Nationalsozialisten derart erstarken ließen, mussten von deutschen Unternehmern zunächst eingeworben werden. Und die Unternehmer waren willig.
„Die Tagesordnung“ greift die Momente der Weltgeschichte auf, die uns wenig vertraut sind. Verhandlungen in Hinterzimmern, ein Marionettentheater mit dem österreichischen Diktator Kurt Schuschnigg, der Hitler auf den Leim ging und das fast schon vertrottelte Verhalten englischer und französischer Spitzenpolitiker im Umgang mit den Nationalsozialisten stehen im Mittelpunkt der Erzählung, die von stark essayistischen Passagen geprägt ist. Auf stille und gerade deshalb so eindrucksvolle Weise bekommt der Leser vor Augen geführt, wie Hitler so stark werden konnte. Eindrucksvoll ist vor allem auch die sprachliche Gestaltung – von der Übersetzerin Nicola Denis kongenial ins Deutsche übertragen. Die kraftvolle Sprache in Verbindung mit den Hintergrunderzählungen sind eine Mischung, die einen erschauern lässt. Vor allem dann, wenn uns vor Augen geführt wird, dass das alles auch mit uns zu tun hat: „Doch um besser zu verstehen, was dieses Treffen vom 20. Februar bedeutet, um seinen Ewigkeitsgehalt zu begreifen, müssen wir diese Männer künftig bei ihrem Namen nennen. Nicht mehr Günter Quandt, Wilhelm von Opel, Gustav Krupp und August von Finck versammeln sich an jenem frühen Abend des 20. Februar 1933 im Reichtagspräsidentenpalais; es müssen andere Namen her. Denn Günther Quandt ist ein Deckname; hinter ihm verbirgt sich etwas ganz anderes als der Biedermann, der sich gerade den Schnurrbart schmierig macht und brav auf seinem Platz am Ehrentisch sitzt. […] – [M]an erahnt über ihm die Accumulatoren-Fabrik AG, die spätere Varta, die wir kennen, weil die juristischen Personen ihre Avatare haben. […] So lautet der eigentliche Name der Quandts, ihr Demiurgenname, denn er, Günter ist nur ein winziger Haufen Fleisch und Knochen, wie Sie und ich, und nach ihm werden seine Söhne und die Söhne seiner Söhne den Thron besteigen. […]  Und so heißen die Vierundzwanzig weder Schnitzler noch Witzleben noch Schmitt, Finck, Rosterg oder Heubel, wie uns ihr Familienname weismachen will. Sie heißen BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken. Unter diesen Namen kennen wir sie. Kennen sie sogar bestens. Sie sind hier, unter uns und zwischen uns. Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherungen und die Batterie in unserer Uhr.“ (18ff.)
Die Verstrickungen der Industriellen bilden die Rahmenerzählung – zum Schluss wird das ganze Ausmaß ihrer Beteiligung an der nationalsozialistischen Diktatur noch einmal offenbar.
Und dazwischen die unfähigen und naiven Politiker, die wie Hampelmänner wirken und die Hauptrollen in den zahlreichen diplomatischen Tragödien spielen, die vor allem auf einem großen Bluff basieren: „Was an diesem Krieg verblüfft, ist der unerhörte Erfolg der Frechheit, der uns eines lehren sollte: Die Welt gehorcht dem Bluff. Selbst die seriöseste, steifste Welt, selbst die alte Ordnung, die sich niemals dem Anspruch der Gerechtigkeit beugt oder vor dem aufständischen Volk einknickt: Sie tut es vor dem Bluff.“ (92)
Éric Vuillard erzählt keine neue Geschichte – er verändert nur den Fokus. Doch dieser Perspektivenwechsel ist sehr erhellend. „Die Tagesordnung“ ist ein kurzes, aber großes Buch. Vuillard hat dafür absolut zu Recht den renommierten „Prix Goncourt“ erhalten. Eine Lektüre, die ich nur empfehlen kann.

Éric Vuillard: Die Tagesordnung
erschienen am 28. März 2018
www.matthes-seitz-berlin.de

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