Rezension: „Heimkehrt nach Fukushima“ von Adolf Muschg

„Fukushima mon amour. J’ai tout vu à Fukushima“ – Adolf Muschg erzählt von der Liebe inmitten einer Endzeitlandschaft

Aufregung fördert die Anziehung. Wenn zwei Menschen gemeinsam eine Extremsituation erleben, Angst haben und aufgeregt sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich ineinander verlieben, sehr viel höher als ohne Adrenalinkick. Ein Hängebrückenexperiment aus dem Jahr 1974 belegt diese These. Und welche Kulisse eignet sich besser zur Herstellung einer angsterfüllten Stimmung als eine verstrahlte Sperrzone, ein No-go-Area, wie zum Beispiel die Zone rund um den Unglücksreaktor in Fukushima?
Helene Hegemann ist mit 26 die jüngste Nominierte auf der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Adolf Muschg ist 58 Jahre älter und mit 84 der älteste Longlist-Autor.
Der Schweizer Schriftsteller legt mit „Heimkehr nach Fukushima“ einen Liebesroman vor, der auch explizite Stellen enthält. Geschlechtsverkehr in der Gefahrenzone kommt nicht nur einmal vor…
Aber von Anfang an: Der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus erhält eine Einladung von einem befreundeten japanischen Paar. Ken-Ichi und Mitsuko möchten, dass Paul nach Japan kommt, um dort Teil einer Künstlerkolonie zu werden, die Mitsukos Onkel in einem Dorf in der Nähe des Unglücksmeilers etablieren möchte. Fukushima, was so viel wie „Glücksinsel“ bedeutet, soll seinem Namen wieder alle Ehre machen. Die Menschen sollen in die „Zone“ zurückkehren. Paul, der gerade von seiner Lebensgefährtin Suzanne verlassen wurde, tritt die Reise nach Japan an, um sich vor Ort ein Bild zu machen. In Tokyo angekommen wird schnell klar, dass nur die 37-jährige Mitsuko, kurz Mitsu, den über 60-jährigen Gast begleiten wird. Ken hat einen anderweitigen Termin…
Vier Tage lang reist Neuhaus mit der jungen Japanerin durch die „Zone“, besucht den Bürgermeister von Yoneuchi und Menschen, die bereits zurückgekehrt sind. Stets dabei, der Geigerzähler in Mitsus Brusttasche. In den vier Tagen entsteht eine ungeheure Nähe zwischen Paul und Mitsu, die bis zum Schluss (bis auf eine Ausnahme) per Sie sind. Doch „Heimkehr nach Fukushima“ ist nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern auch der Versuch einer Annäherung an die japanische Kultur, die sich so sehr von unserer unterscheidet.
In Japan herrscht eine ausgeprägte Schamkultur vor. Das Gesicht zu verlieren ist schlimmer, als das Leben zu verlieren. Im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima erklärt das vieles. Während in Deutschland 2011 das Atom-Moratorium beschlossen wurde, das den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie regelt, setzt man in Japan – trotz der Erdbebengefahr – auf diese Technik. Warum? In Muschgs Roman klingt die Begründung der japanischen Seite u.a. so: „Wir sind mit unseren Katastrophen im Bunde, und wenn es ein Erdbeben der Stärke 9 nicht tut, und ein Tsunami der Extraklasse auch nicht, dann müssen eben noch ein paar Atommeiler hochgehen. Sollen wir deswegen auf diese Energie einfach verzichten? Dürfen wir das noch, nachdem so viele brave Mitbürger ihr alles geopfert haben, auch Gesundheit und Leben?“ (38)
Oder so: „Und weil Scham und Rücksicht unwiderstehlich sind, widersteht bei uns auch niemand der Atomkraft – jedenfalls reicht der Widerstand nicht aus, die Werke ganz einfach abzuschalten, wie bei euch. Weil so viele Arbeitsplätze dran hängen? Nein, weil sich so viele Leute so viel Mühe damit gegeben haben! Sollen die nur, weil unser Leben draufgeht, auch noch ihr Gesicht verlieren? Warum sollte ein Unglück unvergänglicher sein als unsere Kultur?“ (59)
Es geht, so der Bürgermeister des Dorfs in der Zone, um Selbstachtung: „Die wahre Katastrophe ist nicht die nukleare, es ist die soziale. Sie zerstört den Kern der Menschen.“ (93)
Und als Paul nach den vier Tagen in der Zone noch einmal nachfragt: „Warum geben Sie die Atomenergie nicht auf?“, erhält er zur Antwort: „Die Opfer sind Teil von uns, und Japan kann sich nicht selbst aufgeben.“ (188f.)
Die Scham ist auch das verbindende Element, was die zahlreichen Stifter-Zitate angeht. Paul Neuhaus ist ein ausgewiesener Kenner des österreichischen Biedermeierschriftstellers Adalbert Stifter. Sein Roman „Nachkommenschaften“ aus dem Jahr 1864 ist seine Reiselektüre – und zusehends werden Passagen von Stifter parallel zur Erzählung rund um den Besuch in Fukushima gesetzt. Es findet eine interessante Verflechtung von Literatur und (fiktiver) Realität statt.
Zahlreiche Zitate und Anspielungen verweisen auf den Film „Hiroshima, mon amour“ von Alain Resnais. Ich habe den Film (nach einem Drehbuch von Marguerite Duras) bestimmt schon zehn Mal gesehen und musste immer wieder Parallelen feststellen. Auch in Resnais‘ Film entspinnt sich eine Romanze nach einer atomaren Katastrophe. Ein japanischer Architekt und eine französische Schauspielerin verbringen eine gemeinsame Liebesnacht und bleiben doch auf Distanz: „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ Muschg greift diesen Dialog im französischen Original auf: „Fukushima mon amour. J’ai tout vu a Fukushima“ (99) – zu deutsch: „Fukushima, meine Liebe. Ich habe alles gesehen in Fukushima.“
Sowohl unter literarischen als auch unter kulturellen Aspekten – Muschg ist übrigens in dritter Ehe mit einer Japanerin verheiratet – fand ich das Buch ausgesprochen interessant. Mich hat es auch dazu angeregt, Gelesenes ausführlicher zu recherchieren, etwa die japanischen Ballonbomben.

Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima
erschienen am 20. Juli 2018
www.chbeck.de

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