„Erzähle mich weiter, daß ich einmal gewesen bin, daß ich nicht in der welt verloren geh wie all die gewesenen“ – Josef Oberhollenzer erzählt vom Erinnern und vom Vergessen
„Sültzrather“ ist das eigenwilligste, experimentellste und anstrengendste Buch, das sich in diesem Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis befindet. Ich muss zugeben, dass es ein bisschen gedauert hat, bis ich hineingefunden habe, aber wenn man sich auf den Stil des Autors einlässt, kann es eine wunderbare Leseerfahrung sein. Wenn meine Großmutter früher etwas erzählt hat, kam sie oft vom Hundertsten ins Tausendste – das musste sie auch, denn ich kannte die ganzen Leute, von denen sie erzählte ja nicht. Es war wie ein Sprechen mit Fußnoten. Josef Oberhollenzer hat diese Art des Erzählens literarisiert. Aber die Spuren, die der fiktive Autor Vitus Sültzrather aus dem fiktiven Ort Aibeln (im Buch westliche von Klausen in Südtirol verortet) sind vielfältig. Es gibt vor allem einen nicht näher Bezeichneten namens F., der sich an den Zimmerer und Dichter erinnert, der 1959 von einem Baugerüst stürzte und fortan querschnittsgelähmt war.
Aus diversen Erzählungen, in denen u.a. Sültzrathers Lehrer, aber auch seine Zugehfrau Notburga T. und viele weitere Menschen zu Wort kommen, aber auch aus den Aufzeichnungen seines Großneffen Isidor, wird Stück für Stück ein Mosaik zusammengesetzt, das das Bild eines Mannes ergibt, dessen größte Angst es war, in Vergessenheit zu geraten, der aber gleichzeitig sein eigenes (ausgesprochen umfangreiches) Werk vernichtete. Zur Tochter seiner Zugehfrau sagt er wenige Jahre vor seinem Tod: „Vergiß mich nicht, wenn ich unter der erde bin! Wenn ich dein nachbar bin, Rut, erzähle mich! Erzähle mich weiter, daß ich einmal gewesen bin, daß ich nicht in der welt verloren geh wie all die gewesenen, die unter der erde sind und sich sehnen, sich unendlich sehnen, doch gewesen zu sein, doch aufgehoben zu sein in der erinnerung! Schau, wie sie all die menschen unter die erde treten, wie sie sie unter die erde stampfen, in die vergessenheit hinen, Rut, Rut, in die verschwundenheit!“ (133f.)
Andererseits löscht er das von ihm selbst geschriebene systematisch aus: „Ungefähr 20 Jahre lang hat ihm ein Angestellter des kleinen dörflichen Supermarktes an jedem Montagmorgen eine Fünfhunderterpackung Din-A4-Blätter ins Haus gebracht. Wenn man also 500 Din-A4-Blätter mal 54 (sic!) Wochen mal 20 Jahre rechnet, so hat mein Großonkel in seiner letzten Schaffensphase, die einerseits ja seine produktivste und andererseits aber in Wirklichkeit auch seine unproduktivste gewesen ist, 54.000 Din-A4-Blätter vollgeschrieben und abgeschabt, abgekratzt, ausgelöscht.“ (126f./Fußnote).
Eigentlich wollte er Lehrer werden, doch nach einem von ihm als extrem demütigend empfundenen Zwischenfall in der Schule, verliert er sein Interesse an der Mathematik und verwirft seinen Plan. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf und der querschnittsgelähmte Zimmerer mit der ausgeprägten Vorliebe für Schuhe (er hat zwei Paar für jeden Tag des Jahres) dichtet fortan nur noch, um alles wieder auszulöschen.
Die Lektüre ist manchmal anstrengend. Der umfangreiche Fußnotenapparat – oft ist der Fußnotentext länger als der Fließtext) – in Kombination mit der durchgängigen Kleinschreibung (sowie alter Rechtschreibung) erfordern ein hohes Maß an Konzentration. Aber nach einer Weile gewöhnt man sich daran und man taucht immer weiter ein in die Welt des Vitus Sültzrather, der seltsam fremd und verschroben wirkt, einem nach diesem Buch aber doch auch nahe ist.
Mich persönlich hat das Ganze etwas an Josef Winkler erinnert, wobei die Geschichten durch die Fußnoten (die man unbedingt lesen sollte!) und durch die Erschaffung eines ganzen Fantasieuniversums rund um einen fiktiven Autor (sogar mit einem Literaturhinweis auf einen Sültzrather-Band aus der Reihe TEXT+KRITIK) zu etwas ganz Besonderem wird.
Aus diversen Erzählungen, in denen u.a. Sültzrathers Lehrer, aber auch seine Zugehfrau Notburga T. und viele weitere Menschen zu Wort kommen, aber auch aus den Aufzeichnungen seines Großneffen Isidor, wird Stück für Stück ein Mosaik zusammengesetzt, das das Bild eines Mannes ergibt, dessen größte Angst es war, in Vergessenheit zu geraten, der aber gleichzeitig sein eigenes (ausgesprochen umfangreiches) Werk vernichtete. Zur Tochter seiner Zugehfrau sagt er wenige Jahre vor seinem Tod: „Vergiß mich nicht, wenn ich unter der erde bin! Wenn ich dein nachbar bin, Rut, erzähle mich! Erzähle mich weiter, daß ich einmal gewesen bin, daß ich nicht in der welt verloren geh wie all die gewesenen, die unter der erde sind und sich sehnen, sich unendlich sehnen, doch gewesen zu sein, doch aufgehoben zu sein in der erinnerung! Schau, wie sie all die menschen unter die erde treten, wie sie sie unter die erde stampfen, in die vergessenheit hinen, Rut, Rut, in die verschwundenheit!“ (133f.)
Andererseits löscht er das von ihm selbst geschriebene systematisch aus: „Ungefähr 20 Jahre lang hat ihm ein Angestellter des kleinen dörflichen Supermarktes an jedem Montagmorgen eine Fünfhunderterpackung Din-A4-Blätter ins Haus gebracht. Wenn man also 500 Din-A4-Blätter mal 54 (sic!) Wochen mal 20 Jahre rechnet, so hat mein Großonkel in seiner letzten Schaffensphase, die einerseits ja seine produktivste und andererseits aber in Wirklichkeit auch seine unproduktivste gewesen ist, 54.000 Din-A4-Blätter vollgeschrieben und abgeschabt, abgekratzt, ausgelöscht.“ (126f./Fußnote).
Eigentlich wollte er Lehrer werden, doch nach einem von ihm als extrem demütigend empfundenen Zwischenfall in der Schule, verliert er sein Interesse an der Mathematik und verwirft seinen Plan. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf und der querschnittsgelähmte Zimmerer mit der ausgeprägten Vorliebe für Schuhe (er hat zwei Paar für jeden Tag des Jahres) dichtet fortan nur noch, um alles wieder auszulöschen.
Die Lektüre ist manchmal anstrengend. Der umfangreiche Fußnotenapparat – oft ist der Fußnotentext länger als der Fließtext) – in Kombination mit der durchgängigen Kleinschreibung (sowie alter Rechtschreibung) erfordern ein hohes Maß an Konzentration. Aber nach einer Weile gewöhnt man sich daran und man taucht immer weiter ein in die Welt des Vitus Sültzrather, der seltsam fremd und verschroben wirkt, einem nach diesem Buch aber doch auch nahe ist.
Mich persönlich hat das Ganze etwas an Josef Winkler erinnert, wobei die Geschichten durch die Fußnoten (die man unbedingt lesen sollte!) und durch die Erschaffung eines ganzen Fantasieuniversums rund um einen fiktiven Autor (sogar mit einem Literaturhinweis auf einen Sültzrather-Band aus der Reihe TEXT+KRITIK) zu etwas ganz Besonderem wird.
Josef Oberhollenzer: Sültzrather
erschienen am 10. September 2018
www.folioverlag.com