Rezension: „Gott der Barbaren“ von Stephan Thome

„Wir sind die große Flut, die das Alte hinwegspülen wird. Wir müssen uns nur trauen.“ – Stephan Thome erzählt von Begegnungen mit dem Fremden und von religiösem Fanatismus

Die chinesische Geschichte ist uns heute noch fremd. Vielleicht denken wir dabei an Mao, den Boxeraufstand oder an Dynastien mit Namen, die man sich kaum merken kann, außer vielleicht Ming, wegen der unbezahlbaren Vasen, die in unzähligen Cartoons zu Bruch gehen.
Stephan Thome hat Sinologie studiert und ist mit vielen Aspekten der chinesischen Geschichte vertraut. In „Gott der Barbaren“ greift er einen Abschnitt der Historie auf, der uns kalte Schauer über den Rücken jagt, wenn wir erstmals davon hören. Der von 1851 bis 1864 währende Taiping-Aufstand gilt als der opferreichste Bürgerkrieg der Weltgeschichte. Zwischen 20 und 30 Millionen Menschen starben damals in China. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Aufständen unzufriedener Bauern, die gegen die mandschurische Qing-Dynastie aufbegehrte, die zu diesem Zeitpunkt durch eine verkrustete Bürokratie und Verfallserscheinungen im Niedergang begriffen war. Die Qing- oder Mandschu-Dynastie herrschte bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in China, obwohl sie einer Minderheit angehörten und keine Han-Chinesen waren. Anführer der Rebellenbewegung war Hong Xiuquan, ein Mystiker, der sich nach Visionen infolge seines wiederholten Scheiterns bei der kaiserlichen Beamtenprüfung für den kleinen Bruder Jesu hielt. Beeinflusst durch die Heilige Schrift, die ihm ein christlicher Missionar nahegebracht hatte, verfolgte er den Plan als „Himmlischer König“ gemeinsam mit vier weiteren Aufständischen, die Geschicke des Reichs der Mitte zu lenken. Kurz: Christliche Fundamentalisten führten einen Aufstand an, der mehrere Millionen Menschen das Leben kostete.
Zeitgleich schwächte auch der Zweite Opiumkrieg das Land. Die Engländer versuchten gemeinsam mit den Franzosen, eine Öffnung des Landes für den europäischen Freihandel zu erzwingen. Ursprünglich durften die Europäer nur einen einzigen Hafen (Kanton) anlaufen, um dort chinesische Handelsgüter einzukaufen – die Chinesen hatten kein Interesse an europäischer Ware und ließen sich in Silber auszahlen, so dass die Silbervorräte in Europa zusehends dahinschmolzen. Um China zu schwächen und gewaltsam zu öffnen, verwirklichte die britische East India Company einen perfiden Plan: Sie machte Millionen Chinesen süchtig nach Opium aus der eigenen Kolonie Bengalen. Auf diese Weise versuchten die Briten das gefühlte Machtungleichgewicht zu beheben. Das chinesische Kaiserreich reagierte mit zahlreichen Gegenmaßnahmen und schließlich kam es zum Ersten Opiumkrieg, den China verlor. Genau wie den Zweiten Opiumkrieg (1856-1860), der im Mittelpunkt von Stephan Thomes Abenteuerroman steht.
Es sind verschiedene Perspektiven, aus denen das Geschehen betrachtet wird. Als Leser folgt man mehreren Lebenslinien und beginnt zu verstehen, welche Folgen beschleunigte und damit überfordernde Transformationsprozesse zeitigen können.
Es geht um den Kontakt mit dem Fremden – alle sehen im fremden Gegenüber Barbaren, der titelgebende „Gott der Barbaren“ ist der christliche Gott. Der deutsche Missionar (auch die gab es tatsächlich in China!) Philipp Johann Neukamp fasst die gegenseitige Fremdheit folgendermaßen zusammen: „Sie blickten auf unsere spitzen Nasen wie wir auf ihre Zöpfe, wir hielten sie für unterwürfig und verschlagen, sie uns für herrschsüchtig und gierig, und im Grund ihres Herzens verstanden sie nicht, was wir von ihnen wollten.“ (143)
Beide Seiten gehen von der eigenen Überlegenheit aus, wobei das chinesische Kaiserreich nach den „Ungleichen Verträgen“ infolge des Ersten Opiumkrieges bereits stark angeschlagen war. Der Sonderbotschafter der britischen Krone in China, Lord Elgin, tritt besonders arrogant auf. Seine Aussagen sind geprägt von herablassenden Abwertungen der fremden und einer selbstherrlichen Aufwertung der eigenen Kultur: „Nie geben wir uns mit dem zufrieden, was wir heute wissen. Wir verehren die Antike und glauben an Gott, aber wir lassen uns nicht davon abhalten, die Wahrheit zu suchen. Und wissen Sie, wie ich das finde? Ich finde es männlich. Der Fortschritt fällt einem nicht in den Schoß, man muss ihn erringen. Chinesen hingegen glauben immer noch, sie hätten den Gipfel der Weisheit vor zwei- oder dreitausend Jahren erreicht. Seitdem igeln sie sich ein und reagieren beleidigt, wenn man ihnen ihre Rückständigkeit vorhält. Das ist weibisch.“ (363)
Und auch der chinesische Kaiser kann nicht fassen, dass die Eindringlinge ihm im eigenen Reich gefährlich werden konnten: „Auf unserem eigenen Boden sollen wir zu schwach sein, uns der Eindringlinge zu erwehren? Der Prinz hat sich im Kampf gegen die langhaarigen Banditen [i.e. die Aufständischen] große Verdienste erworben und die Barbaren [i.e. die Europäer] von der Küste vertrieben. […] Sogar Frauen und Kinder wissen, dass die Forderungen der Barbaren unerfüllbar sind. Dass sie sich an unseren Küsten angesiedelt haben gleicht einer Erkrankung der vier Gliedmaßen des Körpers.“ (409f.)
Stephan Thome hat einen ausgesprochen spannenden und erhellenden Abenteuerroman geschrieben, der vor Augen führt, welche Rolle Macht, Gewalt und Fanatismus in einer krisengeschüttelten Zeit spielen. Im vergangenen Jahr stand „Das Floß der Medusa“ von Franzobel auf der Shortlist – dieses Buch fand ich ähnlich faszinierend wie „Gott der Barbaren“. Und die beiden auf Tatsachen basierenden Romane haben auch einiges gemeinsam, denn sie zeigen auf, wie erschreckend schnell der Mensch seine Menschlichkeit über Bord werfen kann, wenn es um die Verwirklichung eigener Ziele geht.

Stephan Thome: Gott der Barbaren
erschienen am 10. September 2018
www.suhrkamp.de

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