Geschichten von einem „waschechten Bauernweib“ – Stanislaw Wostokow erzählt von einem russischen Bullerbü
Absurdität und Komik in Verbindung mit Poesie – das ist in der deutschen Kinderliteratur eher eine Ausnahmeerscheinung. In russischen Kinderbüchern hat aber genau diese Mischung schon Tradition. Der Avantgardist Daniil Charms schrieb z.B. nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder. Seine Texte waren weder kindertümelnd noch sonderlich pädagogisch, sondern vor allem schräg und unangepasst. Und das kommt bei Kindern gut an. „Pippi Langstrumpf“ ist wohl das beste Beispiel dafür.
„Frossja Furchtlos“ ist eine Art Pippi Langstrumpf, die in einem russischen Bullerbü lebt. Doch die Idylle ist bedroht. Frossja wohnt bei ihrer Großmutter Aglaja Jermolajewna in dem Örtchen Papanowo. Ihre Eltern sind Geologen und ständig fort. Das Haus, in dem das Mädchen und die Oma wohnen, ist ein echtes Baudenkmal – sogar mit einer Hinweistafel, auf der geschrieben steht: „Wohnhaus des Großbauern Fjodor Korowin. Anfang des 19. Jahrhunderts.“ Zur Schule geht Frossja, die sich selbst als „waschechtes Bauernweib“ begreift, natürlich auch. Dafür muss sie ins Nachbardorf Polewo, wo sie gemeinsam mit dem Musterschüler Petuchow und dem Dreierschüler Shmychow lernt. Mehr Schüler gibt es in der Gegend nicht.
Als eines Tages eine Journalistin auftaucht und Frossja zum historischen Haus ihres Ururururgroßvaters befragt, kommt es zu einer Reihe von Vorfällen, die ganz schön viel Bewegung in das Leben der beiden Hausbewohner bringt… Zunächst einmal möchte der Überzeugungstrinker Nikanor (er ist überzeugt davon, dass jedes Dorf einen Trinker braucht, weshalb er sich „opfert“) Frossja die Zeitung für einen Hunderter verkaufen, den er dann in Schnaps investieren möchte. Aber Frossja jagt ihn davon. Aus Rache beschließt er, sie zu verfluchen, was leider auch klappt. Über ihrem Haus braut sich ein Sturm zusammen, der das Baudenkmal beschädigt. Beim Versuch, das Haus zu reparieren, stürzt die Großmutter und muss ins Krankenhaus – und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Frossja ist zum Glück nicht allein, denn sie hat ein sprechendes Huhn, das allerdings nur zwei Wörter kann („gut!“ und „Grundgütiger!“) sowie einen Leihbären von ihrem Onkel. Der Bär namens Gerassim geht ihr bei den täglichen Verrichtungen immer zur Hand, muss aber jeden Morgen Kaffee mit Frossja trinken, weil er sonst in den Winterschlaf fällt. Als Frossja schließlich losfährt, um die Großmutter im weit entfernten Großstadtkrankenhaus zu besuchen, ahnt sie nicht, dass das Haus ihres Ururururgroßvaters während ihrer Abwesenheit verschwinden wird…
Meiner Tochter und mir hat die gemeinsame Lektüre unheimlich gut gefallen. Die absurden Wendungen sind ein großer Spaß und Frossja ist ein Charakter, den man sofort ins Herz schließt. Sie ist bodenständig und resolut, wirkt aber menschlicher und empfindsamer als Pippi Langstrumpf, die eher die Züge einer Märchenfigur trägt. Eine „waschechtes Bauernweib“ wie Frossja ist auf einem russischen Dorf durchaus vorstellbar. In Stanislaw Wostokows Buch gehen Poesie und Komik eine wunderbare Verbindung ein. Die Idylle wirkt kein bisschen kitschig, sondern äußerst realistisch. Und zum Schluss lernt man sogar noch etwas über Architektur. In Wort und Bild wird der Aufbau des Hauses eines Großbauern erläutert. Die Illustrationen von Marija Woronzowa wirken sehr lebendig. „Frossja Furchtlos“ hat meine Tochter sehr begeistert. Russland als Schauplatz fand sie spannend. Die russischen Namen hatte sie schnell drauf, auch wenn sie ihr zunächst etwas schwierig vorgekommen sind.
Stanislaw Wostokows Buch ist eine herrliche schräge Lektüre mit sehr viel Charme und einer ordentlichen Prise schwarzem Humor. Zudem wird das Motiv des verschwindenden Hauses hier auf eine einzigartige Weise verhandelt. Es geht nämlich nicht um Zauberei, sondern um ein durch und durch reales Phänomen, das mir bislang noch in keinem einzigen Kinderbuch untergekommen ist. Für Kinder ab 8 und Erwachsene ein großer Spaß!
Stanislaw Wostokow: Frossja Furchtlos oder von sprechenden Hühnern und verschwindenden Häusern
erschienen am 20. März 2019
www.knesebeck-verlag.de