„Du bist frei, Frau, mach was du willst.“ – Andrea Grill erzählt von einer Opernsängerin, die sich für Kind und Karriere entscheidet
Iris Schiffer ist 39, als sie feststellt, dass sie schwanger ist. Von wem, weiß sie nicht genau, denn neben dem Tenor Sergio, mit dem sie seit mehreren Jahren zusammen ist, gibt es auch noch Ludwig, den Politiker, der aber nur Liebhaber und nicht Vater sein will, weil er schon Vater ist und auch eine Frau hat. Iris will das Kind, das ist von Anfang an klar. Und sie will auf kein Engagement verzichten, denn so richtig berühmt ist sie noch nicht, aber doch ziemlich gefragt. An der New Yorker Met soll die den Pagen Cherubino aus Mozarts „Le nozze di Figaro“ singen und bei den Salzburger Festspielen sogar eine Hauptrolle, die Sophie aus Nicholas Maws „Sophie’s Choice“ – eine zutiefst dramatische Geschichte über eine Frau, die in Auschwitz dazu gezwungen wird, sich für eines ihrer Kinder zu entscheiden.
Iris liebt Ludwig, ist aber mit Sergio zusammen. Mit Ende 30 steht sie beruflich kurz vor ihrem Durchbruch. Aus den Bubenrollen ist sie mittlerweile fast herausgewachsen. Die Rolle der Sophie bei den Salzburger Festspielen ist das, was sie und ihre Agentin Martha sich schon lange gewünscht haben, doch die Premiere ist kurz vor dem errechneten Entbindungstermin angesetzt…
Mehrere Monate lang verheimlicht Iris ihre Schwangerschaft weitgehend. Nur ihre Familie, Ludwig und Sergio, der sich als der Vater betrachtet und nichts von Ludwig weiß, sowie zwei Freundinnen wissen davon. Doch nicht nur der Bauchumfang, der von Kapitel zu Kapitel zunimmt, sondern auch Ludwig muss versteckt werden. Er steht nicht zu seiner Vaterschaft, obwohl Iris sich sicher ist, dass das Kind von ihm ist. Trotzdem liebt Iris ihn abgöttisch, fliegt von New York nach Frankfurt und zurück, nur um ihn für ein paar Stunden in einem Hotel zu treffen. Von Sergio trennt sie sich, obwohl oder gerade weil er sich rührend um sie kümmert und der Geburt entgegenfiebert.
Iris geht ihren Weg. Sie verdrängt die Schwangerschaft nicht, beschäftigt sich sehr intensiv mit dem Kind, das sie „Sternfahrer“ nennt – aber sie möchte deshalb auch nicht beruflich zurückstecken: „Solange ich gut singe, geht mein Bauch keinen was an.“ Und: „Ich kann, was ich will.“
Sie ist kompromisslos in ihren beruflichen Entscheidungen, begegnet Regisseuren und Intendanten niemals unterwürfig, sondern immer mutig und setzt sich durch.
Nur manchmal blitzt die Ursache für das stetige Funktionieren, das so gut wie gar nicht problematisiert wird, durch. In einem Interview sagt sie einmal: „Ich bin zur Perfektion erzogen worden, nicht nur von meinen Eltern, auch von der Schule, der Gesellschaft – eigentlich allen. Das ist vielleicht meine größte Schwäche.“
Und man weiß nicht, ob man diese Frau, die alles durchzieht, bewundern oder bedauern soll. Geht es um eine freie Entscheidung oder darum, wie ein Uhrwerk zu funktionieren? Es ist die Geschichte einer „Powerfrau“, die hier erzählt wird. Vielleicht auf eine andere Weise als üblicherweise – immerhin ist das Ganze ein Opernroman – und doch ist es der gleiche Topos.
Die Spannung kommt natürlich auf, weil die Geburt immer näher rückt und über allem die Fragen hängen: Fliegt sie bald auf? Was passiert dann? Wie gehen Menschen in ihrem beruflichen Umfeld damit um? Schafft sie es, das Kind erst nach der Premiere in Salzburg zu entbinden?
Da ich selbst Künstlerin bin und am Tag, an dem meine Tochter zur Welt kam, einen Auftritt vom Kreissaal aus absagen musste, fand ich die Geschichte natürlich besonders interessant. Wie realistisch das Ganze ist, steht auf einem anderen Blatt, denn erfahrungsgemäß machen Regisseure und Intendanten bei einer bestehenden Schwangerschaft nicht mehr viel mit, selbst wenn es um Stars geht.
Sprachlich und stilistisch konnte mich „Cherubino“ weitgehend überzeugen. Der Anfang ist etwas holprig, aber es wird besser. Kurze stakkatoartige Sätze fangen die Gehetztheit des beständigen Versteckspiels sehr gut ein und zeigen auf, dass beides gleichzeitig möglich ist: die Gelassenheit einer Frau, die weiß, was sie will und die Angst davor, dass es eben doch anders kommen könnte.
Ich habe „Cherubino“ gerne gelesen, zu meinen Longlist-Favoriten zählt der Roman allerdings nicht.
Andrea Grill: Cherubino
erschienen am 22. Juli 2019
www.hanser-literaturverlage.de