„Ich werde mich um Bernhard kümmern, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ – Angela Lehner erzählt von erwachsenen Kindern in Not
„Ich bin Eva Gruber. Mit meiner Familie ist es schwierig.“ So stellt sich die Ich-Erzählerin dieses Romans ihrem Psychiater Doktor Korb vor. Im Otto-Wagner-Spital, einer „Anstalt“ in Wien, ist sie gelandet, weil sie behauptet, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben.
Bald wird klar, dass es einen anderen Grund gibt. Bernhard, ihr jüngerer, 22 Jahre alter Bruder ist bereits wegen Depressionen und einer schwerwiegenden Essstörung in der Einrichtung. Um ihn will, nein, muss sie sich kümmern: „Wenn ich den Bernhard nicht gefüttert krieg, dann schafft das keiner.“ Davon ist sie überzeugt. Sie belegt das komplette Therapieprogramm, Musik- und Kunsttherapie und erzählt in Einzelsitzungen Doktor Korb von ihrer Vergangenheit. Sie ist klug und rotzfrech – eine Mischung, die sie ungeheuer sympathisch macht und für zahlreiche Lacher sorgt, aber letztendlich bleibt einem das Lachen doch immer im Halse stecken.
„‘Ach, Frau Gruber‘, sagt Korb, ‚so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären.‘ Ich nicke. ‚Ja‘, sag ich, ‚wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.‘ Wir lächeln uns an.“
Es ist eine ganz besondere Beziehung, die zwischen der stets ruppigen Patientin und dem zunächst überforderten, später zusehends souveräner agierenden Psychiater entsteht. Im Gespräch mit dem Arzt, den Eva Gruber immer nur Korb nennt, wird deutlich, welche Machtverhältnisse in der Herkunftsfamilie der beiden mittlerweile erwachsenen Grubergeschwister herrschten. Der Vater, der sich rauchend in sein Zimmer zurückzog, die Kinder missbrauchte und die Familie schließlich verließ – was genau das bedeutet, zeigt sich erst ganz zum Schluss – und die Mutter, die den braven Bernhard, der sich schon als Baby gegen nichts wehren konnte, abgöttisch liebt, während die aufsässige Eva sogar aus dem Zimmer gesperrt wurde, um Ruhe vor ihr zu haben. Hier werden derart traurige Dinge auf so rasend komische Art erzählt, dass es einem aus völlig unterschiedlichen Gründen die Tränen in die Augen treibt. Der Erzählton ist wirklich einzigartig.
Der Humor der Ich-Erzählerin bricht die Gewaltfantasien, die ihr, die so viel Wut und Hass in sich trägt, öfter durch den Kopf gehen, auf eindrucksvolle Art und Weise. Erst zum Schluss zeigt sich die ganze Zerbrechlichkeit der jungen Frau, die nach außen stets die Mutige ist, die den überängstlichen Bruder beschützt, seit er auf der Welt ist: „Es war leicht, die Mutige zu sein, neben einem solchen Feigling.“ Das sagt sie sowohl über den Bruder als auch über den Vater. Mehrfach fällt auch der Satz: „Dass man Angst hat, heißt nicht, dass man sich auch fürchten muss.“
„Vater unser“, das sich in die drei Teile „Der Vater“, „Der Sohn“ und „Der Heilige Geist“ gliedert, ist eine Abrechnung mit einer Familie, mit der es „schwierig ist“. Es ist die Geschichte einer Frau, die von klein auf Ablehnung erfahren hat, für das, was sie ist und etwas verarbeiten muss, das sie nicht verarbeiten kann.
Für mich ist der Roman ganz klar einer meiner persönlichen Favoriten für den diesjährigen Deutschen Buchpreis. Ich kann mir das Buch auch hervorragend als Film vorstellen. Was für eine berührende und gleichzeitig komische Geschichte. Diese Kombination habe ich derart gelungen bisher nur bei Joachim Meyerhoff erlebt.
Angela Lehner: Vater unser
erschienen am 18. Februar 2019
www.hanser-literaturverlage.de