„Auf der Suche nach den weißen Flecken auf [der] eigenen Landkarte“ – Katerina Poladjan erzählt von einer Frau, die sich ihren armenischen Wurzeln annähert
Helen Mazavian hat eine armenische Mutter und einen deutschen Vater. Nach einem Studium der Kunstgeschichte und einigen Semestern Orientalistik gibt sie ihr Promotionsvorhaben auf und erlernt die Kunst der Buchbinderei. Als Buchrestauratorin reist sie schließlich nach Armenien, um dort die armenische Buchbindekunst zu erlernen. Ihre Mutter Sara, eine Künstlerin, die sich zeit ihres Lebens in ihrem Werk mit dem Völkermord an ihren Vorfahren beschäftigt hat, drückt Helen vor der Abreise ein Foto der Familie aus den 1950er Jahren in die Hand. Die Tochter soll sie finden und mit ihnen sprechen.
Doch Helen ist nach ihrer Ankunft in Jerewan zunächst mit sich selbst beschäftigt. Sie lernt ihre Kolleginnen und andere Armenier kennen, zum Beispiel den Sohn ihrer Abteilungsleiterin. Levon, der eine kleine Tochter hat, und Helen, die eigentlich mit Danil liiert ist, sind sich auf Anhieb sympathisch und beginnen eine Affäre. Levon ist Musiker, ist aber zum Militär gegangen und kämpft in Bergkarabach. Und dann gibt es noch viele andere Menschen, die Helen kennenlernt, zum Beispiel die Diaspora-Armenierin Ano, die wegen des Kriegs aus Syrien geflüchtet ist. Sie sucht in der Heimat ihrer Vorfahren ihr Glück – und wird es auch finden. Außerdem gibt es Grigor, einen sympathischen Taxifahrer, der sie zuerst nach Aschtarak und später nach Artaschat fährt, denn dieser Ortsname steht auf dem Foto, das die Mutter ihr mitgegeben hat. Durch eine Verwechslung landet sie zunächst im falschen Ort, wo es ebenfalls Mazavians gibt, die allerdings nicht mit ihr verwandt sind. Armenien ist ein gastfreundliches Land, in dem Helen stets mit offenen Armen empfangen wird. Für die junge Frau ist es eine Reise zu ihren Wurzeln, vor allem aber ist es eine Auseinandersetzung mit der bewegten Geschichte des Landes, von dem aus man stets auf den Ararat blickt, das Nationalsymbol, das auf türkischem Boden liegt.
Das Buch, das Helen restaurieren soll, ist eine alte Familienbibel, in der handschriftliche Eintragungen vorgenommen wurden, die die junge Frau verstören: „Anahid, Anahid, Anahid“ (58) steht zum Beispiel darin und „Hrant will nicht aufwachen, mach, dass er aufwacht.“ (59) Wer sind Anahid und Hrant? Diese Frage lässt Helen nicht los – und auch der Geschichte des Geschwisterpaares wird sie nachgehen.
Als Leser erfahren wir, dass Anahid die große, fast vierzehnjährige Schwester des siebenjährigen Jungen Hrant war. Zusammen überlebten sie 1918 den Völkermord an den Armeniern. Sie flohen in den Wald, schlugen sich in der Wildnis durch, verloren beinahe ihr Leben, weil sie verfolgt wurden und trugen stets die Familienbibel mit sich – unter den Arm geklemmt, wie sich das gehörte.
Die Protagonistin begibt sich auf die Suche nach den weißen Flecken auf ihrer inneren Landkarte. Auf alten Karten waren diese unbekannten Leerstellen stets mit einem „Hic sunt leones“ – „Hier sind Löwen“ (häufig auch mit „Hic sunt dracones“ – Drachen) beschriftet. Diese Leerstellen versucht Helen durch ihre Reise aufzufüllen und sie stellt dabei fest, dass es schmerzhaft ist, sich der Geschichte eines Landes anzunähern, das immer noch traumatisiert ist.
Ich habe „Hier sind Löwen“ sehr gerne gelesen, da mich Armenien fasziniert und ich eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes für sehr wichtig halte. Auch das gegenwärtige Armenien wird sehr lebendig geschildert – einerseits lässt sich vielfach ein glühender Patriotismus feststellen, etwa bei Levon, der eigentlich ein sehr begabter und hervorragend ausgebildeter Musiker ist und sich freiwillig dafür entscheidet, sein Leben in Bergkarabach aufs Spiel zu setzen – andererseits herrscht eine gewisse Resignation. In meinen Augen ein gut erzählter und bewegender Roman.
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen
erschienen am 26. Juni 2019
www.fischerverlage.de