„Jeder muss wissen, wo er hingehört.“ – Ulrich Woelk erzählt von einer Frau, die sich selbst findet und alles verliert
Es ist der Sommer 1969. Studenten protestieren gegen den Vietnamkrieg und die westliche Welt fiebert der ersten bemannten Mondlandemission entgegen. In einem Kölner Vorort lebt der elfjährige Tobias, der ein Mondposter über dem Bett hängen hat und davon träumt, mit der Apollo-11 selbst ins All zu starten. Von Beginn an ist klar, dass am Ende dieses Sommers die Mutter tot sein wird: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ (7) Das ist der erste Satz. Wie es dazu kommt, dass Eva, die zunächst Hausfrau, später Übersetzerin sein wird, Selbstmord begeht, wird hier aus Sicht des damals 11-Jährigen erzählt.
Als der unfreundliche Nachbar stirbt und nebenan eine Familie einzieht, ändert sich alles. Wolf und Uschi Leinhard und ihre knapp 13-jährige, frühreife Tochter Rosa – sie ist nach Rosa Luxemburg bekannt -, sind liberal und bezeichnen sich selbst als Kommunisten. Der Vater ist Philosophieprofessor, die Mutter Übersetzerin und Rosa träumt davon, Schriftstellerin zu werden. Die neuen Nachbarn treten zu einer Zeit in das Leben von Tobias und seiner Familie, in der der Junge gerade begreift, dass irgendetwas in der Beziehung zwischen seinen Eltern nicht ganz rund läuft. Der traditionelle Vater – ein Ingenieur, der alles richtig machen möchte, so „wie es sich gehört“ – und die intelligente aber in ihrer Hausfrauenrolle vollkommen unterforderte Mutter haben keinerlei Sexualleben, weil die Mutter sich verweigert und der Vater immer mehr Druck macht. Eines Abends belauscht Tobias zufällig einen Dialog der Eltern, der ihm als vollkommen unaufgeklärtem Kind zunächst ein Rätsel bleibt: „‘Ich will dich nicht erpressen. Ich will, dass du es willst.‘ ‚Ich funktioniere nicht auf Knopfdruck.‘ ‚Nein‘, sagte er. ‚Du funktionierst gar nicht.‘“(26)
Mit den neuen Nachbarn verstehen sich die Eltern ausgezeichnet. Tobias‘ Vater Walter, der Ingenieur, ist von der selbstbewussten Uschi fasziniert und seine Mutter Eva von Wolf, dem Philosophieprofessor. Bei diversen gemeinsamen Aktivitäten kommen sich die Nachbarn näher. Vor allem entsteht eine intensive Freundschaft zwischen Uschi und Eva.
Die 38-jährige Hausfrau entwickelt ein immer größeres Selbstbewusstsein und fängt an, amerikanische Kriminalromane zu übersetzen. Dem Vater ist das nicht wirklich recht, denn er hat eine traditionelle Rollenauffassung, die er auch an Tobias weitervermittelt: „Aber weißt du, wenn ein Mädchen zu klug ist, muss man sich gut überlegen, ob es zu einem passt.“ Und: „Jeder muss wissen, wo er hingehört.“ (81) Damit ist gemeint, dass Frauen an die Seite ihres Mannes und vorzugsweise an den Herd gehören.
Und während Tobias‘ Eltern sich in ihrer Ehe zusehends entfremden, entdeckt ihr Sohn gemeinsam mit Rosa seine eigene Sexualität.
Ulrich Woelk hat mit „Der Sommer meiner Mutter“ einen Coming-of-Age-Roman geschrieben, der eine aufregende Zeit lebendig werden lässt. Die Welt ist beseelt vom Fortschrittsglauben, der sich in der ersten Mondlandung ausdrückt. Gleichzeitig verzweifelt man über der Engstirnigkeit der damaligen Zeit, in der Menschen, die sich nicht an die traditionellen Geschlechterrollen angepasst haben, in einem bürgerlichen Umfeld nicht überleben konnten.
Eine Geschichte vom Erwachsenwerden, deren dramatische Entwicklung mich zutiefst berührt hat.
Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter
erschienen am 25. Januar 2019
www.chbeck.de