„Vielleicht hatte die Heimat uns vergessen!“ – Marko Dinić erzählt von einem jungen Mann, der nicht ankommen kann
Der 1988 in Wien geborene Marko Dinić ist in Belgrad aufgewachsen und schließlich nach Österreich zurückgekehrt, wo er auch heute lebt. In „Die guten Tage“ lässt er einen jungen Mann zu Wort kommen, der mit dem „Gastarbeiter-Express“, einem zwischen Wien und Belgrad verkehrenden Bus, nach zehn Jahren in seine Heimat zurückkehrt, um seine Großmutter zu beerdigen. Sie war die einzige Verwandte, die er bedingungslos geliebt hat. Vom Rest seiner Familie – allen voran vom Vater – ist er zutiefst enttäuscht. Auf der zehnstündigen Busfahrt durch die ungarische Tiefebene kommt er ins Gespräch mit seinem Sitznachbarn, einem Elektriker und Autor, der sich selbst als Chronist bezeichnet und er lässt seine eigene Kindheit und Jugend in Belgrad Revue passieren. Es waren traumatische Jahre, die unter anderem von dem Bombardement Belgrads im Frühjahr 1999 geprägt waren und vom Vater, der als Beamter wechselnden Regimen die „Kadavertreue“ schwor:
„Ich liebte Milošević. Ich liebte ihn, weil mein Vater, der Trottel, ihn auch liebte. So wie Tito liebte er Milošević zwar nicht. Aber beinahe so. Er arbeitete schließlich für ihn, arbeitet immer noch, zwar für andere, aber im Grunde, das weiß ich, trauert ein nicht zu verachtender Rest der alten Zeit nach. Er hat einen kleinen Posten im Innenministerium und fristet sein Beamtendasein als Ameise unterm Neonlicht irgendwelcher Archive. Als der Krieg vorbei war und neue Schergen sich anschickten, das Land ausbluten zu lassen, wurde mein Vater, der elende Kommunistensohn, nicht etwa ersetzt; er wurde lediglich zurechtgestutzt und angepasst.“
Als Elfjähriger begriff der Erzähler noch nicht, was passierte: „Der 24. März kam. Die Flieger brachten Tomahawks und Streubomben. Das kümmerte uns wenig, weil wir nicht genau wussten, was Tomahawks und Streubomben waren. Wir imitierten ja nur die nationalistischen Grunzlaute unserer Eltern. Erst Jahre später wurde mir bewusst, was in der Stadt während des Bombardements überhaupt ablief. 1999 kümmerten mich andere Dinge. Mein ganzes Wesen war nur auf eins konzentriert: den Ausnahmezustand. Irgendwann Ende März sprach der Präsident die magischen Worte aus, jene Worte, die mich und die restlichen Kinder dazu veranlassten, ihn zu lieben. Wir konnten gar nicht anders: Mit sofortiger Wirkung war die Schule geschlossen, und wir alle, auch die schlechten Schüler, bekamen ein Sehr gut ins Zeugnis. Während die Erwachsenen um unsere Sicherheit bangten, waren wir schon längst in den Wäldern und auf den menschenleeren Straßen.“
Es ist die kindliche und jugendliche Perspektive, die dieser Geschichte ihre Eindringlichkeit verleiht. Was macht es mit einem jungen Menschen, wenn er Krieg und Zerstörung auf der einen Seite und glühenden Nationalismus auf der anderen Seite erlebt? Was machen früh erlebte Angst und Hass aus einem Menschen? „Ich wurde bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dazu erzogen, Muslime, Albaner, Kroaten und Gott weiß wen noch zu hassen – das ist ein Verbrechen, für das niemand eine Entschädigung zahlen wird! Wir können uns schließlich nicht wehren, wir halten die Klappe und fressen die ganze Scheiße, schwenken die Fähnchen und schwören irgendeinem Deppen, dessen Namen wir als Kinder nicht einmal richtig aussprechen konnten, die Treue. Mein Lieber, im Grunde werden wir für die Ohnmacht gezüchtet! Aber trotzdem – glauben Sie nicht, ich hätte mich ergeben, niemals! Meine Eingeweide hängen an diesem gottverdammten Land, davor kann ich nicht fliehen!“
Das Spannungsfeld, in dem der Junge aufwächst, macht ihn aggressiv: „Ausrasten, ja, das wollte ich, von einem Moment zum nächsten, wahllos um mich schlagen, egal ob Miloš, Ana oder die Professoren: einfach nur in die Fresse! Mir meine Haut abziehen, eine neue wachsen lassen. Diese Kloake entweder ordentlich durchspülen oder mit ihr weggespült werden. Die ganzen Jahre des Drecks aus mir rauskotzen. Meinen Vater, die Missgeburt, töten!“
Der Hass auf den regimetreuen Vater ist ein ständig wiederkehrendes Motiv. Erst am Ende wird klar, dass das Bild, das er vom eigenen Vater hat, der Revision bedarf.
Davor muss er noch den Ehering seiner Großmutter zurückbringen, der Verstorbenen zurückgeben – und sich seiner Familie und der eigenen Vergangenheit stellen. Der junge Mann, der in Wien als Barkeeper arbeitet, quält sich sichtlich. Er wird verfolgt von den Gespenstern der Vergangenheit, die ihm Schuldgefühle bereiten: „Vaters Wut beim Anblick der Kolonne galt selbstverständlich nur den Kroaten, den Bosniaken, Amerikanern, den Vereinten Nationen! Die Schuld war das einzige Erbe meines Vaters, das ich nicht so leicht loswerden konnte.“
Mit eindringlichen Worten schildert der Autor das Schicksal eines jungen Mannes, der einer verlorenen Generation angehört und in die Diaspora geflüchtet ist, um vielleicht irgendwann zur Ruhe zu kommen. Doch ein Ankommen ist nirgends möglich.
Was für eine kraftvolle Sprache! „Die guten Tage“ ist ein Buch, das mich gefangen genommen hat mit der Schilderung von Menschenleben, die an den Umständen gescheitert sind. Es ist weit mehr als die Abrechnung mit dem Vater und der Familie – Dinićs Roman ist ein Porträt einer ganzen Generation.
Marko Dinić: Die guten Tage
erschienen am 18. Februar 2019
www.hanser-literaturverlage.de