„Fadenspuren“ zwischen Erinnerungen und Bildern, Orten und Namen oder Der trauernde Blick
Esther Kinsky ist Slawistin und übersetzt aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Daneben ist sie Autorin und erhielt für ihr neu erschienenes Buch „Hain“, das sie selbst als „Geländeroman“ bezeichnet, kürzlich den Preis der Leipziger Buchmesse.
Italien ist ein beliebter Topos in der Kunst. Es ist das „Land, wo die Zitronen blühen“, ein Sehnsuchtsort, an den Maler und Schriftsteller seit Jahrhunderten reisen, um Licht und Landschaft einzufangen. Esther Kinsky aber erkundet das Gelände, also jenen Bereich, von dem Besucher sich sonst fernhalten. Salinen zum Beispiel oder ödes Hinterland, das wenig mit der Sehnsucht nach Licht und lieblichen Landschaften zu tun hat. Sie sucht auch nicht das überwältigende Erlebnis, sondern Ruhe. Es ist der trauernde Blick, der über das Gelände streift. Im ersten und dritten Teil ist es Winter und die Landschaft ist leerer als im Sommer: „Über eine Brücke gelangte ich in ein Gelände, in dem sich die Leere, auf die ich aus dem Pavillon blickte, als bloßer Anfang einer menschenlosen Weite darstellte, die viel größer war, als ich erwartet hatte. Eine Landschaft oder Abwesenheit von Landschaft tat sich auf, die vergessen lassen konnte, dass es das Meer, Comacchio, die Bassa Padane gab, dass es überhaupt etwas anderes gab als dieses Schwanken des Wassers, der winzigen Inseln aus gestrüppigem, winzig verästeltem Kraut, das in der Wintersonne rötlich violett schimmerte, als die verfallenden Speicherhäuser der Salinen, die wie Luftspiegelungen in der Ferne hingen, als die Ahnung von Becken, Dämmen, winzigen Gebüschhainen, als andere Lebewesen außer Vögeln.“ (252) In die Beschreibungen der Landschaft, bricht immer wieder die Erinnerung ein. Der Lebensgefährte der Erzählerin, M., ist kürzlich gestorben und sie tastet sich nun an „Fadenspuren“ entlang, „die sich zwischen meinen Erinnerungen und Bildern, Orten, Namen spannten.“
Während im ersten und dritten Teil vor allem die Trauer um ihren verstorbenen Lebensgefährten im Mittelpunkt steht, geht es im zweiten Teil um die Erinnerung an den toten Vater, der etruskische Nekropolen liebte und den es in den Ferien stets nach Italien zog, bis er schließlich sogar Reiseführer in seinem Sehnsuchtsland wurde und nach einem Herzinfarkt starb. Es sind Bilder aus der Kindheit, die im zweiten Teil beschworen werden. Der Vater mit dem schwachen Herzen, der stets zu weit rausschwimmt, weshalb die Familie immer Angst um ihn hat. Die Fahrten durch die Tunnel des Appenins, der Besuch der Nekropolen und die Betrachtung der Mosaike sind der Erzählerin noch lebhaft in Erinnerung. Die Vergangenheit wird eingerahmt von der Gegenwart, in der die Trauer um M. im Vordergrund steht.
Die drei Abschnitte sind nach italienischen Orten benannt: Olevano, in der Nähe von Rom, das im 19. Jahrhundert zahlreiche Maler aus dem Norden anlockte, dann Chiavenna in der Lombardei und schließlich Comacchio in der Emilia-Romagna.
Insbesondere in Olevano zieht es die Erzählerin an Orte der Trauer. Sie besucht den Friedhof, betrachtet die Kolumbarien, in denen nicht Tauben, sondern Tote wohnen und beschäftigt sich mit den Gräbern zweier fremder Frauen.
„Hain“ ist ein besonderes Buch, das mich aufgrund seiner Ereignisarmut und Sprachgewalt zutiefst berührt hat. Esther Kinsky ist es gelungen, der Trauer eine Stimme zu geben. Während sie die Äußere Ödnis durchstreift, ersteht eine innere Landschaft, die den Leser in Gefilde führt, in denen die menschliche Verletzlichkeit und Tiefe offenbar wird.
Esther Kinsky: Hain. Geländeroman
erschienen am 12. Februar 2018
www.suhrkamp.de